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23. Mai 07

Lieber und geehrter Herr Kollege

Da Sie mich so lange auf Reaktion über die Gradiva warten lassen, so muß ich glauben, Sie sind tief in der Dementia praecox‑Arbeit, und will Sie auf meine Auskünfte nicht länger warten lassen.

Ich sehe zwei Probleme in Ihrem Schreiben: a) was die Zurückziehung der Libido vom Objekt bedeuten soll, b) welches die Unterschiede der paranoischen Projektion nach außen von andern Projektionen sind. Ich werde Ihnen sagen, was ich mir denke.

a) Ich meine nicht, daß sich die Libido vom realen Objekt zurückzieht, um sich auf die ersetzende Phantasievorstellung zu werfen, mit der sie dann ihr autoerotisches Spiel treibt. Dem Wortsinne nach ist sie ja nicht autoerotisch, solange sie ein Objekt hat, sei es ein reales oder phanta­siertes. Sondern ich glaube, die Libido verläßt die Objektvorstellung, welche eben darum der Besetzung entblößt, die sie als innere gekenn­zeichnet hat, wie eine Wahrnehmung behandelt und nach außen proji­ziert werden kann. Sie kann dann sozusagen einen Moment lang kühl aufgenommen und der gewöhnlichen Realitätsprüfung unterzogen werden. „Man sagt mir nach, daß ich den Koitus liebe. Nun das sagt man eben, aber es ist nicht wahr.“ Soweit würde die geglückte Ver­drängung reichen, die frei gewordene Libido würde sich dann irgend­ wie autoerotisch wie im Kindesalter äußern. – Ich glaube alle unsere Mißverständnisse kommen daher, daß ich die Zweizeitigkeit des Vor­gangs, die Zerlegung in Verdrängung der Libido und Rückkehr der Libido, nicht deutlich genug betont habe.

Es können nun drei Fälle konstruiert werden. 1) Die Verdrängung durch den geschilderten Prozeß gelingt definitiv, dann ist es der Ver­ lauf, der für die Dementia praecox charakteristisch scheint. Die proji­ zierte Objektvorstellung tritt vielleicht nur vorübergehend in der „Wahnidee“ auf, die Libido läuft endgültig in Autoerotismus aus, die Psyche verarmt in der Ihnen so genau bekannten Weise.

2) Oder bei der Wiederkehr der Libido (Mißlingen der Projektionsbil­dung) wird nur ein Anteil ins Autoerotisd1e gelenkt, ein anderer sucht das Objekt wieder auf, das jetzt am Wahrnehmungsende zu finden ist und wie eine solche behandelt wird. Dann wird die Wahnidee dring­licher, der Widerspruch gegen sie immer heftiger, der ganze Abwehr­ kampf wird nochmals als Realitätsverwerfung durchgekämpft (die Verdrängung verwandelt sich in Verwerfung), und das kann so eine Weile fortgehen, bis schließlich doch die neu ankommende Libido ins Autoerotische geworfen ist oder ein Teil von ihr dauernd in dem gegen den projizierten Objektwunsch gerichteten Wahn fixirt ist. Das ist – in variabeln Mischungsverhältnissen – der Verlauf bei dem Paranoid der Dementia praecox, gewiß der unreinste und häufigste Fall.

3) Oder die Verdrängung mißglückt völlig, nachdem sie einen Moment lang bis zur Projektion des Objektwunsches gelungen war. Die neu ankommende Libido sucht das jetzt zur Wahrnehmung gewordene Ob­jekt auf, bildet die stärksten Wahnideen aus, die Libido setzt sich in Glauben um, die sekundäre Ichveränderung setzt ein; das ergibt die reine Paranoia, bei der der Autoerotismus nicht zur Ausbildung kommt, deren Mechanismus aber erst durch diese Reihe bis zur vollen Demen­tia praecox aufklärbar wird.

Diese drei Schemata stelle ich mir vor. Was daran klinisch beweisbar ist, also zur Existenz gebracht werden kann, werden Sie ja sehen. Vorläufig merke ich, daß es der Rückkehr zum Autoerotismus bei der rei­nen Dementia praecox am besten geht. Ihre Mitteilungen sind ja schla­gend. Nebenbei wiederhole ich hier meinen Unglauben, daß die be­kannten Mechanismen nur bei Dementia praecox und nicht bei echter Paranoia, wie Bleuler meinte, nachweisbar sind.

b) Minder klar, weil mir die Eindrücke aus frischen Fällen fehlen, sind mir meine Gedanken zum Problem b), wie sich die paranoide Projek­tion zur hysterischen und amentischen verhält. Die reinste halluzina­torische Realisierung gibt es gewiß bei letzterer, wo das Wunschobjekt­bild direkt durch Regression – ohne Verdrängung – mit überbesetzter Libido zur Wahrnehmung wird. Die Verdrängung betrifft hier im Ge­ genteile das widersprechende Ich und die Realität. Hier ist auch keine Verkehrung des Vorzeichens, Lust bleibt Lust, nicht wie bei Paranoia in Unlust verwandelt. Also für diesen Typus – siehe meine seinerzeitige Analyse – zwei Kennzeichen: Keine Verdrängung des Wunschobjekts, die Libido bleibt (überstark) bei der Objektvorstellung. übrigens ist das ein plötzlicher Umschlag, kein längerer Kampf und chronische Ent­ wicklung wie bei Paranoia (Dementia praecox). Bei Hysterie kommt der analoge Vorgang, die Halluzination der Wunschidee mit Überwäl­tigung des Ich, durch Regression von der überstark besetzten Objekt­ vorstellung auf die Wahrnehmung als Episode von kurzer Dauer im Anfall vor. Diese Labilität kennzeichnet die Hysterie. Das Verdrängte wird – aber nur zeitweilig – zum Verdrängenden. Interkurrent kann jede Hysterie sich in eine akute halluzinatorische Psychose vom obigen Charakter verwandeln.

Bei Paranoia (die der theoretische Begriff bleibt, Dementia praecox scheint doch ein wesentlich klinischer zu sein) wird ·die Wunschobjekt­vorstellung nie direkt und wegen überstarker Besetzung mit Libido auf dem Wege der Regression realisiert. Da ist zuerst die Verdrängung auf dem Wege der Projektion bei verringerter Libidobesetzung und erst se­ kundär die Verstärkung zur Halluzination durch die nach der Ver­ drängung rückkehrende Libido. Ich muß behaupten, wenn es auch nur an einem guten Schema aufzeigbar wäre, daß Regression und Projek­ tion verschiedene Prozesse sind, auch verschiedene Wege gehen. Charakteristisch für Paranoia ist auch, daß die Regression so sehr zurück­ tritt, die Wunschidee kommt als gehörtes Wort, also durch Verstärkung aus den Denkvorgängen, und nicht als visuelles Bild zur Wahrnehmung. Die gewiß sekundären visuellen Halluzinationen entgehen mir noch, es sieht aus wie sekundäre Regression.

Die Schicksale der Libido, wo sie sich lokalisiert in bezug auf Ich und Objekt, und die Abänderungen der Verdrängung, was sie betrifft und in welchem zeitlichen Ablauf, das muß den Charakter der Neuropsy­chosen und Psychosen konstituieren.

Nach diesen überschweren Dingen etwas Bequemeres. Bei Ihrem sechs­ jährigen Mädchen werden Sie unterdes gewiß erfahren haben, daß das Attentat eine bewußt gewordene Phantasie ist, wie man sie bei der Analyse regelmäßig aufdeckt und wie sie mich zur Annahme allgemei­ ner sexueller Traumen in der Kindheit verleitet haben. Die therapeu­ tische Aufgabe besteht im Nachweis der Quellen, aus denen das Kind seine sexuellen Kenntnisse bezogen hat. Kinder geben in der Regel we­nig an, bestätigen aber, was man erraten hat und ihnen zusagt. For­schung bei den Angehörigen unerläßlich. Wenn es gelingt, gibt es die reizendsten Analysen.

Ich muß für Bleuler nachtragen: Der Autoerotismus ist doch in den Drei Abhandlungen unzweideutig gekennzeichnet. Psychisch, wenn Sie so wollen, negativ.

Daß das Kind nichts redet, kommt auch daher, daß es sich sogleich ganz und voll in die Übertragung begibt, wie Ihre Beobachtung auch zeigt. Mein Görlitzer Patient ist wie jeder Irrtum sehr lehrreich. Es bleibt ja alles Erkannte bestehen, und die Dementia praecox kommt dazu. Mein Gymnasiast, von dem ich in der Gradiva rede, der sich zur Geometrie geflüchtet, zeigte die schönsten Zwangserscheinungen, die herrlichsten Phantasien. Er ist gleichfalls infantil in seinen Genitalien geblieben; ich habe ihn vor Monaten als apathischen Dementen wiedergesehen.

Mit herzlichem Gruß und in Erwartung Ihrer Antwort 
Ihr herzlich ergebener 
Dr Freud