• S.

    PROF. DR. FREUD   WIEN, IX. BERGGASSE 19.

    23.5.12

    Lieber Freund

    Schönen Dank für Ihre rasche Beantwortung 
    und Bemühung um mein Verständnis. 
    Rosenstein wird Ihnen die Arbeit direkt 
    zusenden, er ist bereit, die von Ihnen 
    vorzuschlagenden Kürzungen u Abänder-
    ungen anzunehmen.

    In der Libidosache verstehe ich endlich, worin
     das Unterscheidende Ihrer Auffassung 
    liegt. (Ich meinte natürlich: Inzest, aber ich 
    denke an die von Ihnen angekündigten 
    Modifikationen der Libidoauffassung.) 
    Was ich noch nicht verstehe, ist, warum Sie 
    die ältere Ansicht verlaßen und was 
    anders die Herkunft u Triebfeder des 
    Inzestverbots an. Natürlich erwarte 
    ich gar nicht, daß Sie mir die schwierige 
    Sache weiter brieflich aufklären u 
    kann mich gedulden, bis Sie sich öffent­-
    darüber äußern.

    Der Wert Ihrer Mitteilung liegt für 
    mich in der darin enthaltenen Warnung 
    u Mahnung an meinen ersten großen 
    Irrtum, in dem ich Phantasien mit 

  • S.

    Wirklichkeiten verwechselte. Ich werde also 
    vorsichtig sein u auf jeden Schritt des 
    Weges achten.

    Lassen wir aber jetzt die Vernunft bei 
    Seite u stellen den Apparat auf Lust 
    ein, so erkenne ich eine starke Antipathie 
    gegen Ihre Neue­rung aus zwei Quellen. 
    Erstens wegen ihres regressiven Charakters. 
    Ich meine, wir glaubten bisher, die Angst 
    käme vom Inzestverbote! nun sagen 
    Sie das Inzestverbot kom̄t vielmehr 
    von der Angst, u das ist sehr ähnlich dem, 
    was man vor der ΨΑ gesagt hat.

    Zweitens wegen einer fatalen Ähnlichkeit 
    mit einem Theorem Adler’s, obwol ich natür-
    lich nicht alles, was Adler erfunden 
    hat, von vorne­ herein ächten will. Er 
    sagte: die Inzestlibido ist „arrangirt“, dh 
    der Neurotiker hat gar keine Lust auf 
    seine Mutter, sondern er will sich 
    ein Motiv schaffen, sich vor seiner 
    Libido zu schrecken, u darum spiegelt 
    er sich vor, seine Libido sei so groß, daß 
    sie sogar die Mutter nicht schone. 
    Nun, das scheint mir auch heute noch 
    etwas zu toll u auf völligem Unver-
    ständnis des Ubw zu basiren. Ich 

  • S.

    zweifle schon nach Ihren An-
    deutungen nicht, daß Ihre 
    Ableitung der Inzest­libido 
    anders lauten würde. 
    Aber es ist eine gewiße 
    Verwandtschaft.

    Nochmals bemerkt, daß 
    diese Bedenken bei mir 
    als vom Lustprinzip 
    abhängig erkannt werden.

    In den Pfingsttagen werde 
    ich Ihnen räumlich näher 
    kom̄en. Ich reise 24. dM 
    abends nach Konstanz 
    zu Binswanger u will 
    Diens­tag nach Pfingsten 
    zurück sein. Die Zeit ist 
    so beschränkt, daß sich 

  • S.

    nicht mehr mit ihr anfangen 
    läßt.

    Mit herzlichen Grüßen 
    für Sie u die Ihrigen 
    Ihr 
    Freud

    P.S.

    Jones hat einen kurzen Artikel 
    über die Roosevelt‑Analyse 
    von Prince dem Zentralbl 
    eingeschickt. Ich möchte den 
    von Jones nicht aus­ gesprochenen 
    Tadel dranhängen.

    Ich möchte den von Jones nicht aus­ gesprochenen Tadel dranhängen.]
    Wir möchten bei die­ser Gelegenheit betonen, daß wir mit der Tendenz, die Psychoanalyse zu Eingriffen in das Privatleben zu benützen, durchaus nicht einverstanden sind. – Die Redaktion.“ (Zentralblatt. September 1912, (2):12)
    Siehe dazu Freud (1912-062/1912)