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S.
PROF. DR. FREUD WIEN, IX., BERGGASSE 19.
Tegel 26. 5. 30Meine liebe Ruth
Ihr letzter Brief war wieder köstlich,
in seiner Lebhaftigkeit, Sprung-
haftigkeit, Vollständigkeit und Leiden-
schaftlichkeit erfüllte er in idealem
Maß den Zweck jedes Briefes,
den Empfänger mitleben zu lassen,
als wäre er anwesend. Ich habe alles
genossen, Til, die Hasenauerstraße,
Marie, die neuen Patienten, Mark’s
Urlaub und die Aufgaben im Ambulat-
orium.Es ist gar nicht leicht, es nur annähernd zu
vergelten. Also das subjektivste Moment
voran. Ich hatte an den zwei Tagen, da
ich schüchtern das Abstinenzgebot zu über-
treten begann, gemerkt, daß die Zeit
noch nicht erfüllt ist. Unter dem Ein-
fluß Ihrer telephon. Beschwörung
bin ich zur Abstinenz zurückgekehrt
u freue mich über die humane Auf-
fassung in Ihrem Brief. Schur schrieb
auch dagegen, aber er hätte mich eher
zur Antwort gereizt, er solle in der
medizin. Literatur nachsehen, ob nicht
auch schon Nichtraucher gestorben sind.
Nach Ihrem Bericht über seine Helene
verstehe ich eher die Humorlosigkeit
seines Briefes. Aber der Arme!
Muß man sich das von einer Braut
gefallen lassen? -
S.
Mir wächst in der Schröder’schen Werkstatt
ein Kunstwerk heran, dessen goldene
Hälfte allein noch nicht existenzfähig ist.
Von der anderen, besteht noch nichts.
was ich im Mund trage, ist natürlich
uninteressant, und somit kann ich die
Gegenwart nicht sehr loben. Überdieß
hat sich Schr. jetzt für eine ganze
Woche verabschiedet, für eine Dienst-
reise, keine Lustreise, wie er zu
seiner Entschuldigung sagt. Ich kann
also nicht darauf rechnen, vor der
dritten Juniwoche zurück zu kommen.
Und dann wohin? Meine Frau hat bisher
auf ihren Reisen nichts gefunden.
Die Aussichten sind gar nicht günstig.
Gewiß möchte ich auch, daß Sie an dem-
selben Ort wären. Je wackliger
ich werde, desto mehr lehne ich mich
an Ihre medizinische Stütze. Aber
was wird mit diesem Sommer
übhpt werden?In dieser Ferienwoche reisen wir viel-
leicht nach der Insel Hiddensee bei
Stralsand, wo Ernst seinen Som̄er-
sitz, ein Fischerhäuschen am Strand
hat. Bedingung, daß uns das Wetter
Vertrauen einflößt. Sonst wäre
es schade um den schönen Aufent-
halt und das ausgesucht gute
Essen hier. Eigentlich geht es
uns nämlich hier sehr gut. Das
gewisse quälende Unbehagen, das
mit der Abstinenz verbunden ist, -
S.
suche ich durch wiederholte
Besuche bei Lederer zu
bekämpfen. Eine kostspielige
Anschaffung, das ganze Honorar
der Trdeutung ist drauf-
gegangen, aber die Erfolge
sind in anderer Hinsicht
sehr beachtens‑ u beneid-
enswert: zwei Tanagra,
eine Athene usw.27/5 Das Wetter ist nicht sicher,
wir sind vorläufig nicht
nach Hiddensee gereist. Mama
u Tante haben telephonisch
den völligen Miserfolg
ihrer Reisen eingestanden.David scheint sich mit
der Analyse seiner Para-
noia beschäftigen zu
wollen. Ich höre zu.Radó war einen Abend
mit Eitingon u Simmel bei
uns, um seine Eindrücke
vom Kongreß in Washgtn
mitzuteilen. Alexander
hat die von der Universität
Chicago ausgehende -
S.
Einladung, ein Jahr lang über PsA
zu doziren, angenom̄en.
Von Healy ist ein großes
Buch über PsA samt gekränkt-
em Brief eingetroffen.
Das Buch ist eher eine
gluteale als eine cerebrale
Leistung. Auch sonst trägt
mir die Post unerhörten
Unsinn zu. Eine „Neu-
begründung der Psychoanalyse“
von Herrn Schulte‑Vaar-
ting, M. Pfeiffer, Berlin, Friedenau
sollten Sie sich bestellen.Ich grüße Sie, Mark u Til
herzlich u sehe weiteren
Nachrichten entgegen.
Ihr
Freud