• S.

    Prof. Dr. Freud.  IX., Berggasse 19.

    6.XII.06

    Sehr geehrter Herr Kollege

    Sie werden aus dieser „Beschleunigung 
    der Reaktionszeit“ gewiß Ihre 
    Schlüße ziehen und erraten, daß 
    ich mich über Ihren letzten Brief 
    ohne Einschränkung und Hilfshypothese 
    gefreut habe. Ich dachte es mir ja, daß 
    Sie Ihre wirklichen Ansichten durch 
    die Zielvorstellung der pädagogischen 
    Einwirkung abändern lassen und 
    bin sehr zufrieden, dieselben von 
    solcher Entstellung befreit kennen 
    zu lernen.

    Ich habe, wie Sie ja wissen, mit allen 
    Dämonen zu thun, die auf den 
    Neuerer“ losgelassen werden 
    können; nicht der zahmste unter ihnen 

  • S.

    [Das Faksimile von Seite 2 fehlt.]

    ist die Nötigung, den eigenen Anhängern als ein rechthaberischer und unkorrigierbarer Griesgram oder Fanatiker zu erscheinen, der ich nun wirklich nicht bin. So lange mit meinen Ansichten allein gelassen, war ich begreiflicherweise veranlaßt, mein Zutrauen zu meinen eigenen Entscheidungen zu steigern. Auch gibt mir eine 15 jährige immer mehr vertiefte und schon seit Jahren zur monotonen Ausschließlichkeit gelangte Beschäftigung eine Art von Resistenz gegen Aufforderungen, Abweichendes anzunehmen. (Ich arbeite gegenwärtig zehn Stunden im Tag Psychotherapie.) Aber von meiner eigenen Fehlbarkeit blieb ich stets überzeugt und habe den Stoff unbestimmt oft 

    [Seite 3]

    herumgewendet, um nicht in meiner 
    Meinung zu erstarren. Sie haben 
    selbst einmal diese Geschmeidigkeit 
    meiner Meinungen als Zeichen 
    eines Entwicklgsproceßes her-
    vorgehoben

    Ihre Bemerkgen über Therapie 
    kann ich ohne Abzug unter-
    schreiben. Ich habe die nämlichen 
    Erfahrgen gemacht u habe mich 
    aus den gleichen Gründen gescheut 
    mehr öffentlich zu behaupten 
    als „die Methode trage weiter 
    als jede andere. Ich will nicht einmal 
    behaupten, daß jede Hy so heilbar 
    ist, geschweige denn alles, was man 
    so heißt. Da mir gar nichts an der 
    Ermittlung der Heilungsfrequenz 
    lag, habe ich häufig auch Fälle die 
    an’s Psychotische streifen, oder 
    Wahnformen (Beachtgswahn, Errötensangst ua) 

  • S.

    in Behandlung genom̄en u dabei 
    wenigstens gelernt, daß die 
    gleichen Mechanismen viel 
    weiter reichen als nur bis zu 
    den Grenzen von Hy u Zwangs-
    neurose. Übelwollenden Leuten 
    kann man keine Erklärungen 
    geben; somit habe ich manches, 
    was über Grenzen der Therapie 
    u Mechanismus derselben zu 
    sagen wäre, für mich behalten. 
    Oder so dargestellt, daß nur 
    der Kundige es erkennt. Ihnen 
    wird es nicht entgangen sein, daß 
    unsere Heilungen durch die 
    Fixirung einer im Unbewußten 
    regirenden Libido zu Stande 
    kom̄en (Übertragung), die 
    einem nun bei der Hy am 
    sichersten entgegenkom̄t. 
    Diese gibt die Triebkraft zur Auf-
    fassung und Übersetzg des Ubw 

  • S.

    her; wo diese sich weigert, nim̄t sich 
    der Pat. nicht diese Mühe oder 
    hört nicht zu, wenn wir ihm 
    die von uns gefundene Über-
    setzg vorlegen. Es ist eigentlich 
    eine Heilung durch Liebe. In 
    der Übertragg liegt dann auch 
    der stärkste, der einzig unan-
    greifbare Beweis für die Ab-
    hängigkeit der Neurosen vom 
    Liebesleben.

    Es ist mir ungemein sympathisch, 
    daß Sie versprechen, mir einen 
    vorläufigen Glauben zu schenken, 
    wo Ihre Erfahrung Ihnen noch 
    keine Entscheidg gestattet, natürlich 
    nur bis sie es Ihnen gestattet. 
    Ich meine, bei der vermeintlich 
    strengsten Selbstkritik – ich 

  • S.

    verdiene diesen Kredit. Aber ich 
    beanspruche ihn nur bei sehr wenigen.

    Aus Ihrer lange angekündigten 
    Schrift über Dementia praecox 
    hoffe ich viel zu lernen. Ich habe 
    noch keine sichere Stellung 
    zu der Scheidung ders von der 
    Paranoia sowie zu allen neueren 
    Namengebungen auf diesem 
    Gebiet u bekenne eine gewiße 
    Ungläubigkeit gegen die Mit-
    theilung Bleuler’s, daß sich die 
    Verdrängungsmechanismen bei 
    der Dementia nachweisen lassen, 
    bei der Paranoia hingegen 
    nicht. Meine Erfahrung wird 
    auf diesem Gebiet freilich 
    dünn. Da werde ich also ver-
    suchen Ihnen zu glauben.

    Ihr herzlich ergebener 
    Dr Freud

  • S.