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PROF. DR. FREUD WIEN, IX. BERGGASSE !).
17. Dez 11
Lieber Freund
Ihr Briefpapier hat mir sehr imponirt.
Die Widerstände schmieden uns zusam̄en.
Vielleicht behandelt Bleuler als Außen-
stehender uns jetzt besser als vorhin.
Damit wäre ja seiner Ambivalenz dh:
seinem Zwangscharakter Genüge gethan.Ich bin sehr einverstanden damit, daß
Sie die Libidofrage angreifen u er-
warte selbst viel Klärung davon. Ich spüre
es oft, daß ich lange kein Bedürfnis habe,
einen dunkeln Punkt zu erhellen, ehe ich
durch den Drang von Thatsachen oder Menschen
dazu gezwungen bin.Mit meiner Totemarbeit u dem Übrigen geht
es nicht gut. Ich habe doch sehr wenig Zeit, u
es ist auch etwas ganz anderes, aus Büchern
u Berichten zu schöpfen als aus der
Fülle seiner eigenen Erfahrung. Dazu
kom̄t, daß das Interesse durch die Über-
zeugung abgeschwächt wird, die Resultate,
um deren Beweis man sich bemüht,
bereits im vor hinein zu besitzen. Einern
anderen sind solche Resultate natürlich
nicht wertvoll. Ich ersehe aus den Schwier-
igkeiten dieser Arbeit, daß ich gar nicht -
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für den induktiven Forscher organisirt bin, ganz
aufs Intuitive angelegt, u daß ich mir
eine außerordentliche Zucht angethan habe,
als ich mich an die Feststellung der rein
empirisch auffindbaren ΨΑ machte.Dies und eine Menge akzidenteller Einwirkungen
haben mich z B. in letzter Woche ganz von
der Arbeit ferngehalten u ich muß warten,
bis eine bessere Zeit kom̄t.Für das nächste Jahrbuch (Januar 12 / angeblich)
will ich einen kurzen Aufsatz „Über die
allgemeinste Erniedrigung des Sexuallebens“
Nr 2 meiner Beiträge z. Liebesleben, fertig
machen.Ihren Wunsch, meine Einwände gegen die
nächstliegende Art, die Mythologie auszu-
beuten, an einem Beispiel ken̄en zu lernen,
will ich mit dem nämlichen Fall erfüllen,
der mir in der Debatte den Anlaß
dazu gab. Frl. Spielrein berief sich einmal
darauf, daß ja auch in der Genesis das
Weib als Verführerin des Mannes auf-
tritt, dem sie den Apfel zu essen giebt.
Nun ist der Mythus in der Genesis wahrschein-
lich eine elende, tendenziöse Entstellung
eines Priesterlehrbuben, der wie wir heute
wissen, zwei unabhängige Quellen in
ganz schwachsinniger Weise (wie traumhaft) -
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zu einem Bericht verdichtet
hat. Nicht unmöglich, daß die zwei heiligen
Bäume daher rühren, daß er in jeder
seiner Quellenschriften einen Baum fand.
Die Schöpfung der Eva hat etwas ganz sonder-
bares und singuläres. – Rank hat mich vor
Kurzem aufmerksam gemacht, daß es
im Mythus leicht umgekehrt gelautet haben
könnte. Dann wäre die Sache klar; Eva
wäre die Mutter, aus der Adam geboren
wird, u wir stünden vor dem uns vertrauten
Mutterinzest, dessen Bestrafung usw. Ebenso
fremdartig ist der Zug, daß die Frau dem
Manne etwas Befruchtendes (Granatapfel)
zu eßen giebt. Dagegen ist es in der Um-
kehrung wieder etwas Bekanntes. Daß
der Mann der Frau eine Frucht zu eßen
giebt, ist eine alte Heiratszeremonie,
(vgl noch die Art, wie Proserpina als Weib
des Pluto im Hades verbleiben muß.)
Unter solchen Umständen vertrete ich den
Satz, daß die manifesten Gestaltungen
der mytholog. Motive nicht ohne Weiteres
zur Vergleichung mit unseren ψα Resultaten
brauchbar sind, sondern erst deren
latente, ursprüngliche Formen, auf die
sie durch historische Vergleichung zurückzuführen -
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sind, um ihre Entstellungen im Laufe
der Mythenentwicklg zu beseitigen.
Die kleine Sp. hat wirklich einen recht
feinen Kopf u ich kann bestätigen, daß
sie anspruchsvoll ist.Der Zulauf aus aller Welt, der mich im
Vorjahr so sicher gemacht hat, weil ich alle
hiesigen ΨΑ versorgen konnte, ist heuer
ausgeblieben. Ich bin fast ganz auf Wien
u Provinz angewiesen u fürchte, wenn
die Wölfe hungrig bleiben, werden sie
bald heulen. Frau Hirschfeld, die ich für
Pfister zurechtzubringen vorhabe, ist seit
14 Tagen verschollen, am 3t hat sie sich von
Pf. verabschiedet. Sie hat zwar Recht, denn
sie ist jenseits jeder therap. Chance, aber
sie bleibt verpflichtet, sich der Wissenschaft
zu opfern; wenn sie kom̄t, kann ich andere
Patienten an die Jungen abgeben. Dem
Eindruck einer gewißen äußeren Arm-
seligkeit an unserer großen Sache ist
derzeit nicht zu widersprechen.Also plagen wir uns weiter. Auch wir
haben ein Schicksal zu erfüllen.
Es grüßt Sie u Ihr ganzes Haus
aufs wärmste
Ihr getreuer
FreudΨΑ] Psychoanalytiker
Berggasse 19
Wien 1090
Oostenryk
1003 Seestraße
Küsnacht 8700
Switserland
C32F25