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    PROF. DR. FREUD.   WIEN, IX. BERGGASSE 19.

    22. XII. 12.

    Lieber Herr Doktor

    An der Ablehnung der Titeländerung durch die 
    Ortsgruppe Wien hatte vor allem die Er-
    wägung Anteil, daß Ankündigungen, Druck-
    sorten udgl bereits fertig gestellt, resp. ausge-
    schickt waren, so daß die Rücksicht auf den 
    Verleger eine Änderung erschwerte. Es war 
    ei­gentlich zu spät für solche Absichten. Ich hoffe, 
    daß die Angelegenheit als recht gleichiltig 
    weiter nicht stören wird. „Therapeutisch“ war 
    kaum ein guter Ersatz; die Pädagogen 
    werden sich überzeugen, daß die neue Zeitsch. 
    sie von der Mitarbeiterschaft so wenig aus-
    schließt wie die alte. –

    Es thut mir leid Sie mit dem Hinweis 
    auf Ihr Verschreiben so sehr ge­reizt zu 
    haben, und ich meine, Ihre Reaktion geht 
    über den Anlaß weit hinaus. Über Ihren 
    Vorwurf, ich misbrauche die Analyse 
    um meine Schüler in infantiler Abhängig-
    keit zu halten, und sei darum für deren 
    infantiles Benehmen gegen mich selbst 
    verantwortlich, sowie über alles, was 
    Sie darauf aufbauen, will ich nicht urteilen, 
    weil alles Urteilen in eigener Sache so 

  • S.

    schwer ist und doch keinen Glauben erweckt. 
    Nur zu den thatsächlichen Grundlagen Ihres 
    Aufbaus will ich Ihnen Material liefern, 
    ob Sie ihn dann selbst der Revision unter-
    ziehen. Also ich bin daran gewöhnt, in Wien 
    den entgegengesetzten Vorwurf zu hören, 
    daß ich mich mit der Analyse der „Schüler“ 
    zu wenig befasse. In Wirklich­ keit hat z. B. 
    Stekel, seitdem er vor etwa 10 Jahren 
    aus mei­ ner Behandlung getreten ist, 
    kein Wort mehr zur Analyse seiner 
    eige­nen Person von mir gehört, und bei 
    Adler habe ich es noch sorgfältiger vermieden. 
    Was ich je Analytisches über die Beiden gesagt, 
    wurde zu anderen und hauptsächlich zu einer 
    Zeit geäußert, da sie nicht mehr im Verkehr 
    mit mir standen. Ich weiß also nicht, warum 
    Sie so sicher in der Annahme des Gegenteils 
    sind.

    Indem ich Sie herzlich grüße 
    Ihr 
    Freud

    Anmerkung zu diesem Brief bei Mc Guire und W. Sauerländer, 1974 : 
    "Das Original dieses nicht abgeschickten Briefes fand sich in Freuds Nachlaß."