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    PROF. DR. FREUD   WIEN, IX. BERGGASSE 19.

    5. 3· 12

    Lieber Freund

    Warum so „nachdenklich“ in so einfacher Situation? 
    Ich habe Ihnen vorgehalten, daß es der Verein-
    igung nicht gut geht, wenn der Praesident 
    ihr durch Monate sein Interesse entzieht, 
    besonders wenn er eine so un­ verläßliche 
    Hilfskraft hat wie unser Freund Riklin. Sie 
    scheinen einzu­sehen, daß ich Recht habe, und 
    damit ist der eine Punkt erledigt. 
    Sie lassen mich erkennen, daß Sie mir 
    jetzt nicht schreiben wollen, u ich antworte, daß 
    ich mir die Entbehrung leicht machen will. 
    Ist das nicht mein gutes Recht u erforderliche 
    Notwehr?

    Wir sind sonst in Allem einig. Wenn Sie 
    schreiben, daß Sie im̄er ge­glaubt haben, 
    Ihre bisherigen Leistungen für die 
    Sache und die von Ihnen noch zu erwartenden 
    müßten mir wichtiger sein als Ihre 
    „per­sönlichen Widerwärtigkeiten und 
    Ungeschicklichkeiten“ – (wofür Ihre Freunde 
    harmloser sagen würden: Ihre Launen), 
    so bitte ich Sie, das auch fernerhin zu 
    glauben. In unser beider Verhältnis 
    zur ΨΑ liegt die unerschütterliche Basis 

  • S.

    unserer persönlichen Beziehungen, aber es war doch 
    verlockend auf dieser Basis etwas Schönes, 
    wenn auch Labileres, von intimer Zusam̄en-
    gehörigkeit aufzubauen, und es soll doch 
    so bleiben?

    Was Sie dann weiter über die notwendige 
    intellektuelle Selbständigkeit sagen 
    u durch das Zitat aus Nietzsche verstärken, 
    hat in allem mei­nen Beifall. Wenn aber ein 
    Dritter diese Stelle lesen könnte, würde 
    er mich fragen, wann ich solche Versuche 
    zur geistigen Unterdrückung unternom̄en 
    habe, und ich müßte frsagen: Ich weiß es 
    nicht. Ich glaube, nie. Adler hat allerdings 
    ahnliches geklagt, aber ich bin der Über-
    zeugung, daß er seine Neurose hat 
    reden lassen. Meinen Sie aber, daß 
    Sie persönlich freier von mir sein 
    wollen, was kann ich besseres thun als 
    meine Dringlichkeit aufgeben, meine 
    unbeschäftigte Libido anderswo 
    unterbringen, u abwarten, bis Sie 
    entdeckt haben, daß Sie ein grö­ßeres 
    Stück Annäherung vertragen? Sie 
    werden mich dann wieder be­reit finden. 
    Im Übergang in diese reservirte Position 
    habe ich sehr leise geschimpft. Sie würden 

  • S.

    mich für unaufrichtig 
    gehalten haben, wenn ich gar nicht reagirt 
    hätte.

    Warum, wiederhole ich, so „nachdenklich gestimmt“? 
    Glauben Sie von mir, daß ich auf der 
    Suche nach einem anderen bin, der 
    mir zugleich Freund, Gehilfe und Erbe 
    sein kann, oder daß ich erwarte, so bald 
    die­sen anderen zu finden? Wenn Sie 
    das nicht glauben, so sind wir wieder 
    einig u Sie verwenden dies Nachdenken 
    mit Recht besser auf die Libido-Arbeit.

    Die Frage nach dem Kongreß stand nur 
    in lockerem Zusam̄enhang mit dem 
    affektiven Thema des Briefes. Ich danke 
    Ihnen für Ihre Aus­kunft. Über die 
    Gründungen denke ich wie Sie, sie müßen 
    aus sponta­nem Bedürfnis entstehen.

    Nun seien Sie der Zähigkeit meiner 
    Affektbesetzungen versichert u denken 
    Sie meiner in unverändert freundlicher 
    Weise, auch wenn Sie selten 
    schreiben.

    Mit herzlichstem Gruß 
    Ihr getreuer 
    Freud