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    PROF. DR. FREUD   WIEN IX., BERGGASSE 19.

    1. Okt. 10

    Lieber Freund

    Ich bin sehr einverstanden mit dem heiteren Ton Ihrer 
    Briefe u schließe daraus, daß es auch Mutter u Kind 
    sehr gut geht, was Sie versäumt haben, laut zu 
    sagen. Mit allem, was Sie schreiben, zufrieden, nur 
    punkto Schottländer thun Sie mir Unrecht. Ich habe 
    ihn damals nur gehalten, um ihn zu hänseln und zu 
    bestrafen, u hätte Ihnen ge­wünscht, Zuschauer zu 
    sein, wie er sich gewunden hat, wirklich wie der Wurm 
    im Sprichwort. Übrigens war die Sendung nach Amerika 
    zu jener Zeit schon abgegangen, denn er sprach mir 
    bereits davon, wenn ich nicht irre.

    Onkel Bleuler – Sie meinen ja keinen andern – habe 
    ich unterdeß einen langen Brief geschrieben, nicht 
    flehentlich demütig, eher härtlich, aber doch von der 
    Erwägung getrieben, daß er vielleicht beleidigt sein 
    kann, daß ich keinen direkten Kontakt mit ihm suche. 
    Ich habe versucht, ihm die Ungerechtigkeit klarzulegen, 
    wenn er uns dafür bestraft, daß wir Isserlin’s hoch-
    richterliche Gegenwart abgelehnt haben, und den Gegnern, 
    seinen geehrten Fachkollegen Äußerungen wie die von 
    Ziehen u Hoche angehen läßt, habe bedauert, daß 
    er sich seines Einflußes auf die Entwicklg der Be-
    wegung begiebt, aber versichert, daß wir auch das 
    überstehen werden. Ich habe mit Nachdruck darauf 
    hingewie­sen, daß die Kluft zwischen ihm u seinen 
    deutschen Kollegen doch eine unüberbrückbare ist, 
    u so gelegentlich ihm Pfeffer auf die anale erogene 
    Zone gestreut. Erwarten kann ich mir von dem 
    Schritte nichts, aber ich glaube, er war nicht unberechtigt, 
    u er bringt Sie in keinerlei neue Situation.

    Dem Aufsatz von Putnam 21 Juli 10 im Boston Med J. 
    verdanke ich einen Anfall von Enthusiasmus u 
    habe ihm sofort ge­ dankt u ihn um die Erlaubnis 

  • S.

    gebeten, das Ding für das Zentral­blatt zu übersetzen. Da 
    er mir sie kaum weigern wird, habe ich die Übersetzg 
    unterdeß schon angefertigt. Es wird eine glänzende 
    Apologie der ΨΑ u eine gute indirekte Antwort 
    auf die letzten oder nächsten Beschimpfungen sein. 
    Der alte Mann hat sich da wirklich großartig einge-
    arbeitet u das allermeiste verstanden. Sonderbarer­ 
    Weise macht er gerade da einen Vorbehalt zu -
    meinen Ungunsten, wo er an die Darstellung 
    des mir ureigensten, der Verdrängg u der Rolle 
    der Sexualität geht.

    Durch diese Arbeit bin ich im Studium des Schreber 
    unterbrochen wor­den, das ich nun wieder auf-
    nehmen werde. Ich habe das Buch in Sizi­lien noch 
    nicht halb durchgelesen, aber das Geheimnis liegt 
    klar zu Tage. Die Reduktion auf den Kernkomplex 
    ist leicht. Seine Frau verliebt sich in den Arzt u hat 
    Jahre hindurch dessen Bild auf ihrem Schreib­ tisch. 
    Er natürlich auch, aber bei der Frau giebt es Ent-
    täuschungen, die Nachkom̄enschaft mislingt auch; so 
    kom̄t es zum Flechsig Konflikt; er soll Flechsig 
    als Nebenbuhler hassen, liebt ihn aber kraft seiner 
    Disposition u der Übertragg aus der ersten Krank-
    heit. So ist die infantile Si­tuation fertig, u hinter 
    Fl. kom̄t bald der Vater zum Vor­ schein. Zum 
    Glück für die Psychiatrie war dieser Vater 
    auch – Arzt. Es bewährt sich auch wieder, was wir 
    seinerzeit in Zürich an so vielen paranoiden 
    Fällen illustrirt haben, daß die Paranoiker an 
    der Aufgabe scheitern, die Wiederbesetzg 
    ihrer homosex. Neigungen zu verhüten. Damit wäre 
    der Anschluß an die Theorie erreicht.

    In dieser Theorie bin ich auf der Reise um ein 
    Stück weiter geokm̄men, das ich nun in der 
    Krankengeschichte Schrebers u in einigen anderen 

  • S.

    Publikationen über Paranoia erproben will. Im̄erhin 
    ist das Ganze so unfertig in Vergleich zu seiner Anlage, 
    daß ich nicht weiß, wann u in welchem Umfang es 
    zur Publikation kom̄en wird. Eine Studie über 
    Schreber wird jedenfalls herauskom̄en, u die 
    Leute werden glauben können, ich hätte die Theorie 
    auf das Buch hin gemacht.

    Ich theile Ihre Begeisterung für Schreber; er ist eine 
    Art Offenbarung. Die „Grundsprache“, womit 
    der eig. Wortlaut des Wahnhaften gemeint 
    ist, den der Kranke im Bw nur entstellt erfährt 
    (gerade so wie beim Rattenman̄), gedenke ich als 
    technischen Ausdruck in ernsthafte Verwendg 
    zu nehmen. Die reizvollen einzelnen Phantasien 
    aufzulösen wird vielleicht nach wiederholter 
    Lektüre möglich sein; ich bin noch nicht das 
    erste Mal durchgekom̄en. Ich dachte schon daran, 
    da der Mann noch lebt, mich um gewiße Aus-
    künfte (zB. wan̄ er geheiratet hat) an ihn selbst 
    zu wenden u seine Zustim̄ung zur Bearbeitg 
    seiner Geschichte zu erbitten. Ich glaube aber, 
    es ist zu ge­wagt. Was meinen Sie dazu

    Ich sehe sonst, Sie machen es mit dem Arbeiten 
    gerade so wie ich, lauern darauf, wohin Sie 
    Ihre Neigung zieht, und lassen. Den mani­festen 
    geraden Weg unbegangen. Ich glaube, das ist 
    auch das Richtige; man erstaunt dann nach-
    träglich, wie folgerichtig alle diese Umwege 
    waren. Ich wünsche Ihnen also sehr viel Glück 
    zu Ihrer Vertiefung in die Mythologie. 

  • S.

    Eine Bemerkung in dem Vortrag von Putnam geht 
    auch diesen Weg, das Hinausprojizirte wieder 
    in die Seele aufzuneh men.

    Heute habe ich meine Ordination wieder aufge-
    nom̄en u die ersten meiner Narren wieder-
    gesehen. Es heißt jetzt, die gewonnene Nerven­-
    kraft wieder in Geld umsetzen, um den 
    geleerten Beutel zu füllen. Es dauert 
    immer 1‑2 Wochen bis alle beisam̄en sind, u 
    in der ersten Zeit bleibt einem noch 
    Span̄ung u Reaktionsfähigkeit genug 
    um in der Wissenschaft zu arbeiten. Später ist man froh, wenn 
    man das nackte Leben dabei rettet.

    Mit herzlichem Gruß u 
    besonderen Wünschen für die glückliche 
    Mutter 
    Ihr
    Freud