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    PROF. DR. FREUD.  WIEN, IX. BERGGASSE 19.

    21. 4. 12

    Lieber Freund

    Ich hoffe Sie jetzt, erfrischt durch eine 
    schöne Zeit, zurückgekehrt u will Sie 
    für die Vorgänge des eigentlich in-
    haltsarmen Intervalls inter­essieren.

    Ich habe mit Ferenczi drei sonnige Tage auf einer 
    stillen dalmatini. Insel verbracht, bin 
    dann in der Bora zurückgefahren, seefest 
    geblieben. Seither kom̄e ich vor grober 
    Arbeit nicht zur Besinnung. van Emden ist für einige 
    Wochen hier, bis seine Frau das Haus im 
    Haag eingerichtet hat, wohin er als ΨΑker 
    übersiedelt. Die Spielrein, der ich von Ihrer 
    Kritik nichts zu sagen froh war, hat sich 
    vor einigen Tagen verabschiedet, dabei 
    einiges Intime mit mir bespro­chen. Mit 
    Binswanger bin ich in lebhafterem Verkehr; 
    ich hatte ihm als Nachlaß von Interesse aus-
    gelegt, was sich doch besser durch Kranksein 
    und Operation erklärt.

    Ihre Nachrichten über Bleuler haben mein 
    höchstes Interesse. Sie kön­nen sich denken, 
    wie sehr ich für den Fall seiner Berufung 
    oder seines Rücktritts wünschen würde, 
    daß Sie das Haus am See wieder mit 
    dem Burghölzli vertauschen Doch glaube 
    ich nicht, daß er weggeht, wenn er nicht berufen 
    wird. Seine materiellen Verhältnisse lassen es 

  • S.

    doch nicht zu. Anderseits glaube ich doch mit Bedauern 
    zu merken, daß sein Abrücken von der 
    Züricher Gruppe dieser mehr Schaden gebracht 
    hat als ich erwarten konnte, u würde die 
    Nachricht von einer Wieder­anknüpfung 
    hoch anschlagen. Ich werde ihm wieder schreiben, 
    wenn ich den Imagoabdruck habe, natürlich 
    nicht in der angedeuteten Rich­tung. Ver-
    mittlern geht es ja meistens schlecht.

    Daß Sie die Imago im Licht einer Konkur-
    renz gegen das Jahrbuch sehen wollten, 
    habe ich Ihrer Stim̄ung vor dem Urlaube 
    gutgeschrie­ben. Es ist ja doch immer dieselbe 
    Firma unter drei verschiedenen Na­men, 
    mit leichten Modifikationen der Funktion. 
    Der Arbeit der Lou Salome sehe ich mit Er-
    gebung entgegen. Im folgenden lege ich 
    Ihnen aber eine Sache vor, die viel-
    leicht Ihres Eingreifens wert ist. Wie Sie 
    aus der Beilage ersehen, hat M. Prince 
    die ΨΑ zu einem persön­lichen Angriff 
    auf Roosevelt benützt, der dort viel 
    Aufsehen zu ma­chen scheint. Ich meine, es 
    ist durchaus unzulässig u verstößt gegen 
    die Rechte der Persönlichkeit, die in 
    Amerika freilich wenig geachtet 
    werden, überlasse es aber ganz Ihnen, ob 
    Sie eine Äußerung darüber für 
    zweckmäßig halten, besonders da Sie 
    im Sept. die amerika­nische Gesellschaft 

  • S.

    wiedersehen werden. Wenn Sie den 
    Ausschnitt auch besitzen oder keine Ver-
    wendung für ihn haben, bitte ich um seine 
    Rücksendung.

    Mit besonderer Span̄ung sehe ich natürlich 
    Ihrem zweiten Libidoauf­satz mit den 
    Neuerungen zum Begriff der Libido 
    entgegen, da ich mir denke, daß die letzthin 
    von Ihnen angekündigte „Declaration 
    of Inde­pendence“ hier ihren Ausdruck 
    gefunden haben wird oder sich über­haupt 
    nur hierauf bezogen hat. Sie werden sich 
    überzeugen, daß ich auch verstehe, zuzuhören 
    und anzunehmen oder zu warten, bis 
    mir selbst etwas klarer wird.

    Mit den Arbeiten und der Gruppe hier bin 
    ich zufrieden; einem un­ serer Mitglieder 
    Baron Winterstein habe ich unlängst sehr 
    gerne eine Empfehlung an Sie und 
    Bleuler gegeben; er scheint ein besonders 
    fei­ner Mensch. Mit der Gesamtlage 
    der Sache in der Welt freue ich mich weniger: 
    vielleicht ist das auch nur Oberarbeitungs-
    stimmung. Man lernt ja als Persönlichkeit 
    allmälig unterzugehen.

    Indem ich Sie herzlich grüße 
    Ihr getreuer 
    Freud

    Spielrein] Sabina Spielrein; siehe Protokoll der WPV in dieser Edition .

    Prince, Morton (1912): Roosevelt as Analyzed by the New Psychology. New York Times, Sunday magazine, March 23, 1912, Page 12.