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S.
PROF. DR. FREUD WIEN, IX. BERGGASSE 19.
3. Dez 10
Lieber Freund
Wenn es so geht, ist es herrlich. Ich habe
Bleuler in diesem Sinne geschrieben, ihm
München als Ort der Zusam̄enkunft und
den Sonntag als Tag vorgeschlagen, die Neigung
Zeit zu sparen und mich mit einigen Stunden
Diskussion zu begnügen, leise betont.
Nun kom̄t es dar auf an, daß er keine
Schwierigkeiten macht u nichts argwöhnt.
Ihre Nachreise bleibt doch geheim? Die
Intrige schmeckt mir köstlich. Wenn er
nicht Sonntag, sondern erst Montag kom̄en
will, kostet es mich einen Tag Arbeit; den
opfere ich ihm ungerne, Ihnen gerne, wenn
Sie können. Sie behandeln mich dann
hoffentlich besser als meine sog. ältesten
Anhänger hier, gegen die ich endlich anfange
empfindlich zu werden.Mit Adler wird es wirklich arg. Finden Sie
Bl. in ihm, so erweckt er mir das
Andenken an Fliess, eine Oktave tiefer
dasselbe Paranoid. In der zweiten No des
Zentralblattes, das Ihre reizende Schultratsch-
geschichte bringt, werden Sie ein Referat
von ihm über Ihre sog. kl. Anna finden.
Lesen Sie es sorgfältig; es ist sonst schwer
herauszubringen, was er eigentlich will.
Seine Darstellung leidet an der paran.
Unbestim̄theit. Dießmal merkt man aber
deutlich, wie er die schöne psychologische -
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Mannigfaltigkeit in das enge Bett einer einzigen
aggressiven „männlichen“ Ichströmung zwingen
will, als ob das Kind nur daran dächte, „oben“
zu sein, den Mann zu spielen, die Weiblichkeit
von sich wiese. Dabei muß er einiges gänzlich
misdeuten wie das Abhobeln des Genitales
und anderes bei Seite lassen wie die Angst,
daß auch der Vater ein Kind bekom̄t.
Praktisch bedenklich ist, daß alles auf die
Absetzung des Sexualtriebes hinaus läuft
und daß die Gegner bald auf einen
geübten Psychoanalytiker werden hin-
weisen können, der anderes findet als wir.
Natürlich bin ich ihm gegenüber zwischen
meiner Überzeugung, daß das alles
schief gewickelt u schädlich ist, und der Gefahr
für einen intoleranten Greis zu gelten,
der die Jugend nicht aufkommen läßt, in
einer sehr peinlichen Stellung.Von Putnam habe ich heute den zweiten
seiner Vorträge für unsere ΨΑ bekom̄en.
Ein ganz echter, gerader Mensch, eine
kostbare Acquisition für die Sache. Er
vergißt es auch nicht, Ihrer besonders
zu er wähnen. Jones hat mir auch die
Diskussion darüber eingeschickt. Alle
faden, oeden, insipiden Einwendungen,
die wir hier gewöhnt sind, tauchen
jenseits des großen Wassers unver-
ändert auf, machen sich,auf dem uns -
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bekannten Hintergrund der
amerikan. Prüderie aufgetragen, besonders
gut. Haben wir das in unseren Forschungen
über Amerika schon erörtert, woher die
Energien stammen, denen sie dann das
Feld der Betätigung im Leben eröffnen?
Aus der frühzeitigen Lösung der Familien-
bande, meine ich, womit aber auch alle
erotischen Komponenten vom Leben abge-
halten werden, u die Grazien das Land
verlassen. Kennen Sie den „Amerikamüden“
von unserem Kürnberger? Es ist fürchterlich
wahr, Sie müßen es lesen. Es steht alles
darin bis auf Ihre Entdeckung des Neger-
komplexes. Die, meine ich, fehlt, was
das Bild unwahr macht.Ich bin ganz Schreber u will einen Ehrgeiz
darein setzen, Ihnen das Manuskript
nach München mitzubringen. Meine
Arbeit gefällt mir zwar nicht, aber
das zu sagen, muß man ja anderen
überlassen. Einige Punkte kommen
doch mit Evidenz heraus. Andere Stücke
der Paranoiaspekulation muß ich für
eine spätere Arbeit übrig lassen.
Ich komme vor 10h abends nie zum Schreiben
u selten in die richtige Stim̄ung.
Heute mußte ich wegen Influenzaheiserkeit
meine Vorlesung absagen, darf morgen -
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zu Hause bleiben u hoffe in dieser Konstellation,
da ich nicht fiebere, einige Seiten vorwärts
zu kommen.Unsere Bewegung scheint in der That sich
energisch auszubreiten. Kürzlich erhielt
ich den ersten Brief aus Frankreich(!)
von einem Dr Morichau‑Beauchant, Prof.
der Medizin in Poitiers, der liest, arbeitet
und überzeugt ist. „Cette lettre vous montrerer
que vous avez aussi des disciples en France
qui suivent passionément vos travaux.“
Die Traumdeutung hat Leser in Paris und
Madrid gefunden, wie Zuschriften, aller-
dings von deutsch benannten Personen,
beweisen. Die negative Seite meines
Ruhmes ist freilich noch stärker; geleg-
entlich ärgere ich mich, daß niemand
auf Sie schimpft, der Sie doch auch einige
Schuld an der Sache tragen. Aber die
nächste Generation ist hoffentlch zu etwas
Besserem als zur Rolle des „Kultur-
düngers bestim̄t.Im grüße Sie herzlich, hoffe bald
zu hören, daß in Ihrem Haus, das
mir also entgeht, alles wol ist
u bleibe in Vorfreude
Ihr getreuer
Freud
Berggase 19
Wien 1090
Oostenryk
1003 Seestraße
Zürich 8700
Switserland
C32F21