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S.
14.6.07
Lieber Herr College
Gute Nachricht, daß auch Genf sich
der Sache annimmt. Claparèdè u Flournoy
haben in ihrer Zeitschrift immer
eine freundliche Haltung gezeigt.
Nun bin im sehr froh, daß sie beab-
sichtigen die Aufmerksamkeit auf
Ihre Arbeiten durch ein ausführ-
liches Referat zu lenken. Ich
werde dabei gewiß mitprofitiren.Gerade heute ist mir das Buch
eines Mannes zugekom̄en, der
seinen Namen offenbar mit Recht
führt „Zur Psych. u Ther. neurotischer
Symptome“, von A. Muthmann.
Es führt auf dem Titel den Vermerk
„Eine Studie auf Grund der Neurosen-
lehre Freuds“. M. war Assistent in -
S.
Basel. Es kann doch kein Zufall sein;
so ein Schweizer scheint in der That
mehr persönlichen Muth zu besitzen
als ein freier deutscher Unterthan.
Das Buch ist brav, schöne Kranken-
geschichten, gute Erfolge, würdig
u bescheiden; ich hoffe, da rührt
sich ein wackerer Mitarbeiter. Die
Perspektive fehlt ihm noch, er be-
handelt das 1893 Geförderte dem
Neuesten gleich, auch spricht er
kein Wörtchen von der Über-
tragung.Mit der Zeitschrift nehme ich Sie
also beim Worte. Sie werden
die Notwendigkeit im̄er mehr
einsehen; an Lesern wird es kaum
fehlen. Setzen wir uns eine nicht
zu lange Zauderfrist, etwa
Herbst 1908 die erste Nummer. -
S.
Mit Ihrer Bemerkung über die ambulanten
Fälle haben Sie natürlich den Nagel
auf den Kopf getroffen. Den Frauen-
zim̄ern ist nach ihren Erlebensgewohnheiten
die Realität zu nahe, als daß sie
an die Phantasie glauben sollten.
Hätte ich meine Behauptungen nach den
Angaben der Stubenmädchenmachen
einrichten wollen, lauter negative
Fälle wären da herausgekom̄en.
Es stim̄t dieß Benehmen übrigens
zu anderen sex. Eigentümlichkeiten
der Klasse; Kundige versichern mir,
diese Mädchen lassen sich viel eher
coitiren als zB. entblößt an schauen.
– Die Chance für die Therapie liegt
darin, daß man zuerst an den anderen
Fällen soviel erfahren hat, daß
man diesen Personen ihre Geschichte
ohne ihre Beiträge abzuwarten, selbst
erzälen kann. Bestätigen werden -
S.
sie dann wol, lernen läßt sich nichts
an ihnen.Schade, daß mein Fall mit der Theetasse
noch nicht fertig ist; er könnte sonst
Licht auf Ihre Pat, die erbricht, wenn
eine Brotkrum̄e im Café ist, werfen.
Nach manchen Andeutungen gehen
diese Symptome auf Excrementelles
(Harn u Kot). Anzupacken wäre der
Fall beim Ekel vor der Leiche der
Mutter. Der Ekel vor der Mutter
geht wohl auf Zeit der sex. Aufklärung
zurück. Ich vergaß übrigens, daß
auch das Menstrualblut zu den
Excrementen zu rechnen ist. Was
eine kurze ambulat. Erledigung fast
unmöglich macht, ist das zeitliche Moment.
In so kurzen Zeiten vollzieht sich keine
psych. Veränderung, auch sagt man
einem Manne nichts, den man erst
so kurze Zeit kennt. -
S.
Ich danke Ihnen sehr dafür, daß Sie
meine Erfahrung durch Mittheilung
von Fällen der Dem. pr. bereichern.
Ihr letzter, 36j Frau, Fixirung an die
Mutter, ist ja ideal zu nennen. Die
Frage: wohin mit der von der Mutter
abzulösenden Libido? ist dann viel-
leicht aus dem Verlauf zu beantworten,
wenn er sich so gestaltet wie andere
Ihrer Fälle: ins Autoerotische.Interessant, daß diese dem Verdränggs-
prozeß erliegende Besetzung der
Mutter von Anfang an eine pathologische
(compensator.) Componente hat. Sie
ist übermäßig wegen Abwendung vom
Vater; vorauszusetzen ein Vorstadium
der gemeinen infantil. Neigung zum
Vater. Vielleicht theoretisch bedeutsam. -
S.
Aus Ihrer Reiseabsicht nach Paris u London
ersehe ich mit Befriedigung, daß die Zeit
Ihrer übermäßigen Arbeitsleistung
vorüber ist. Ich wünsche Ihnen einen
interessanten Pariser‑Complex, doch
möchte ich den Wiener nicht durch ihn
verdrängt wissen. Das Hinderniß bei den
Franzosen ist wol wesentlich nationaler
Natur; der Import nach Frankreich hat
im̄er Schwierigkeiten gehabt. Janet
ist ein feiner Kopf, aber er ist ohne die
Sexualität ausgegangen u kann jetzt
nicht weiter; zurück gibt es ja in
der Wissenschaft nicht. Doch werden
Sie gewiß viel Schönes hören.Mit herzlichem Gruß
Ihr ergebener
DrFreudArthur Muthmann
(1875-19 ),
Muthmann, Arthur (1907): Zur Psychologie und Therapie neurotischer Symptome. Eine Studie auf Grund der Neurosenlehre Freuds. Halle: Marhold, 1907.Arthur Muthmann begann sich in seiner therpeutischen Praxis ab 1905 an der Freudschen Psychoanalyse zu orientieren und trat auch mit einer Veröffentlichung für die Psychoanalyse ein. Obwohl er darin viele Werke Freuds zitierte, blieb er in seiner Rezeption der Psychoanalyse blieb auf dem Stand der "Studien über Hysterie" von 1895 stehe. Er korrespondierte mit Freud un Jung, trat aber weder in der Schweiz noch in Deutschland mit einer psychoanalytischen Ortsgruppe in Kontakt und besuchte auch keine psychoanalytischen Kongresse.
Siehe dazu:
Menachem, Amitai (1984): Dr. med. Arthur Muthmann. Ein Beitrag zur Frühgeschichte der Psychoanalyse. Psyche, 1984, (38)8:738-753
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Sigmund Freud Papers: General Correspondence, 1871-1996; Muthmann, Arthur, 1907 , undated, with cover letter from Hans-Otto Muthmann to Sigmund Freud Archives, 1974
https://www.loc.gov/item/mss3999001005
Sigmund Freud. Sigmund Freud Papers: General Correspondence, -1996; Muthmann, Arthur, 1907 , undated, with cover letter from Hans-Otto Muthmann to Sigmund Freud Archives, 1974. 1907. Manuscript/Mixed Material. https://www.loc.gov/item/mss3999001005/.
In dieser Mappe findet sich
- die Fotokopie des Briefes, den Sigmund Freud an Arthur Muthmann am 14.6.1907 schrieb;
- Brief (datiert mit 28.11.1974) von Hans-Otto Muthman (7815 Kirchzarten, Heimatsr. 15), Sohn von Arthur Muthmann an die Sigmund Freud Archives (300 Central Park West; New York, N. Y. 10024):
- Das Original des Briefes befand sich demnach am 28.11.1974 im Besitz von Dr. Harald Mohr, dem Ehemann der Tochter von Arthur Muthmann, Wilhelma Mohr, geb. Muthmann (D-726 Calw/Württ).
- Weiters beantwortete Otto Muthmann Frage zu seinem Vater (dessen Lebensweg) und zu Sigmund Freud.
Breuer, Josef; Greud, Sigmund (1893): Vorläufige Mitteilung. Neurologisches Zentralblatt. 1893
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