• S.

    PROF. DR. FREUD
    WIEN, IX. BERGGASSE 19.

    5. 3. 08

    Lieber Freund

    Ich habe sofort nach Erhalt Ihres Briefes von meiner 
    Schwägerin nach Salzburg an das Hotel Bristol 
    (am Makartplatz) schreiben lassen. Von Ihrer Seite 
    sollen 18 Personen kom̄en, von Wien werden 10 oder 
    12, vielleicht selbst 15 sein, also Logis für 30 Personen. 
    Ob wir im Hotel selbst den Versam̄lungssaal finden 
    können, ob der Wirt uns einen solchen anderswo 
    verschaffen kann oder ob es einer kleinen Spritzfahrt 
    nach Salzbg bedürfen wird, um das Nötige zu veran-
    stal­ten, wird die Post in den nächsten Tagen entscheiden 
    u Sie werden es sofort erfahren, um frei von allen 
    Geschäftssorgen Ihre Aprilreise antreten zu können.

    Zum Programm gestatte ich mir nur folgende Bemerkungen. 
    Wenn Sie schon mir die Ere des ersten Vortrags über-
    lassen, so finde ich es recht, daß Sie die letzte Stelle 
    einnehmen. Es wird die sonst voraussichtliche Abnahme 
    des Interesses hintanhalten u die Vorredner veran-
    lassen sich zu beeilen, um Sie zum Wort kom̄en zu 
    lassen. Dann meine ich aber, sollte ein Fremder, 
    etwa Jones, die zweite Stelle haben u durch einen 
    Wiener von ihm getrennt, Morton Prince die nächste, 
    oder beide Englishmen gleich nach mir. Sadger der 
    Fanatiker ein hereditär mit Orthodoxie Belasteter 
    der zufällig an die Psychoanalyse glaubt anstatt 
    an das von Gott auf dem Sinai‑Horeb gegebene 
    Gesetz, hat wie ich höre, seinen Vortrag zu breit auf 
    Casuistik angelegt u wird ihn vielleicht zurück-
    ziehen. – Auf der Liste vermisse ich Riklin, den Sie 

  • S.

    an­ gekündigt haben u Abraham, der mir vor Wochen geschrieben 
    daß er über ψ‑sexuelle Differenzen zwischen Hy und 
    Dem pr. reden wolle. – Einen weiteren Punkt möchte 
    ich Ihnen vor­ schlagen. Ich will einen erlauchten Geist 
    zu Worte kom̄en lassen, den man nicht anders als 
    durch ein Citat in unsere Gesellschaft bringen kann, 
    Fr. Schiller nämlich, in dessen Briefwechsel mit 
    Körner (Brief vom 1. Dez 1788) unser Sekretär Otto 
    Rank eine köstliche Stelle zur Rechtfertigung 
    unserer psychoanalyt. Technik entdeckt hat. Die Verlesung 
    derselben durch Rank würde nur wenige Minuten 
    in Anspruch nehmen u den Vormittag würdig 
    beschließen. Rank, der mitkom̄en wird, ist übrigens 
    ein netter kluger Junge, absolvirter Gewerbeschüler 
    im Maschinenbau, der jetzt Latein u Griechisch lernt, 
    um die Maturitätsprüfg abzulegen u an die Univers. 
    zu kom̄en. Er ist 23 Jahre alt, seine sonst nicht ganz 
    durchsichtige Schrift „Der Künstler“, die er Ihnen gewiß 
    geschickt hat, enthält die beste Ex­plication meiner 
    verzwickten Theorien, die mir bisher untergekom̄en 
    ist. Ich erwarte viel von ihm, wenn er erst seinen 
    Schulsack gefüllt hat.

    Etwas anderes scheint mir noch fürs Program̄ 
    beachtenswert. Sie ha­ben sich nicht darüber geäußert 
    ob Sie Discussionen zulassen wollen, u wie sie einzu-
    däm̄en seien. Versäumt man letztere Vorsicht, so 
    kann es leicht geschehen, daß man in einem 
    Vormittag überhaupt nicht über den zweiten 
    Vortrag hinauskom̄t. Schränkt man sie auf 5 M. 
    für einen Redner sein, so können im̄erhin 10 
    Redner eine Stunde verbrau­chen. Meine Wiener 
    sind sehr redselig. Vielleicht ginge es an, auf 

  • S.

    Dis­cussionen am Vormittag ganz zu 
    verzichten u dafür die Zeit des ein­zelnen Vortrags 
    zu erweitern. 20 Minuten ist ohnehin ein Inter­vall, 
    das eher genügt, einen Walspruch abzusingen als 
    eine Ansicht zu entwickeln, wie Sie ja von den 
    offiziellen Congressen her wissen. Ich überlasse 
    diese Entscheidungen gerne Ihrer Einsicht.

    Ferner möchte ich Sie um Ihren Rat bitten, was ich 
    denn erzälen soll. Die Darstellg eines Falles, wie 
    Sie meinten, würde zu lange dauern u mir einige 
    peinlich zu empfindendes Vorrecht vor den Anderen 
    einräu­men. So etwas braucht eine Stunde oder 
    mehr. Vielleicht doch ein all­ gemeineres Thema? 
    Wirklich so etwas wie einen „Walspruch“? Es wird 
    mir auf keinen Fall leicht werden, mein Kopf ist 
    müde u dann sehr eigensinnig; er arbeitet, was ihm 
    beliebt, so jetzt zB. durchaus Zwangsneurose, wo ich 
    gerne anderes vornehmen wollte. Sie werden 
    es an meinen Paranoiabemerkgen beobachtet 
    haben, die eig. Neues nur über die Zwneurose 
    brachten u Ihnen eine ordent­liche Enttäuschg gewesen 
    sein müßen als verdün̄ter Aufguß unseres Brief-
    wechsels über die Par.frage kurz nach Ihrem 
    in diesen Tagen gejährten Besuche in Wien
    Meine an einzelnen Stellen sehr tief drin­genden 
    Ermittlungen über die Zw dürften aber ohne Er­-
    zälung von Fällen kaum verständlich sein.

    Also nun zu Jena! Der Fuchs Binswanger muß eine 
    feine Witterung haben. Hoffentlich stellt sich dann 
    im̄er häufiger heraus, daß die Menschen die 
    Leber auf der rechten u das Herz auf der 

  • S.

    linken Seite tragen. Die Fälle von Situs inversus wollen 
    wir dann gerne den staat­lich bestellten Klinikern 
    überlassen. Der Ludwig B. hat das aber brav gemacht; 
    Wärterinnen sind häufig verkappte Sadistinnen, hoffent-
    lich wird unser junger Freund da nicht schlecht gefahren 
    sein – Ihr inneres Vergnügtsein, als Sie die Armut der 
    heutigen Psychiatrie aus nächster Nähe genießen 
    konnten, kann ich mir vorstellen. Wir dür­fen 
    doch sagen, daß wir die Sache etwas interessanter 
    gemacht haben. Daß Sie an dem Schicksal Ihrer Dem. 
    praecox gemerkt haben, daß wir für die Zukunft 
    arbeiten, daß unser Reich nicht von dieser Welt 
    ist, hat mich riesig gefreut. Vergeßen wir’s 
    nur nicht!

    Was meinen Sie übrigens zum Thema „Wandlungen 
    in der (Auffassung und) Technik der Psychoanalyse“, 
    das mir eben eingefallen ist?

    Nächstens erhalten Sie 3 Arbeiten von mir, nur eine 
    spontan u beachtenswert, die anderen abgenötigt 
    wenig wertvoll. „Der Inhalt der Psychose“ soll so 
    fertig gestellt werden, daß es vo auf dem Congreß 
    von Ihnen vertheilt werden kann. Wenn Sie 
    nicht von Hause kom̄en, kann ich Ihnen die Exemplare 
    von Deuticke mitbringen.

    Abends ist wol nur Discussion über die Themen 
    unserer Budapester Freunde; dabei können sich die 
    Span̄ungen entladen. Wollen Sie nicht eine 
    administrative Besprechg dazu nehmen?

    Mit herzlichem Gruß u aufrichtigem Dank 
    für die große Mühe, die Sie sich auferlegen, 
    Ihr Freud