• S.

    Prof. Dr. Freud     
    Mbd. 

    5 Aug 13

    Lieber Freund

    Ich bin unverkennbar in einem ähnlichen 
    toxischen Zustand, wie Sie mich im Vorjahr 
    gesehen haben, und noch ähnlicher, wie ich ihn 
    zu Beginn der ersten Karlsbader Kur 
    hatte. Verstimmt, reizbar, müde, diesmal 
    keine Herzschwäche. Ein Wiederkäuen im̄er 
    derselben trüben Gedanken, Schwernehmen 
    von Kleinigkeiten, Abneigung gegen das Eßen; 
    nach der Magenfüllung tritt aber regel-
    mäßig Aufhellung auf.

    In dieser Intoxikation hat mich der dum̄e Blöd-
    sinn von Neuer, den ich Ihnen geschickt, besonders 
    schwer belästigt. Ich habe jetzt die Arbeit von 
    Jung selbst gelesen u finde sie über Erwarten 
    gut u harmlos. Jones hat mit seiner Kritik 
    ganz recht, die Irrtümer sind greifbar, 
    die Vergleiche schief, vieles, was er als 
    Entdeckg im Tone der Aggression vorbringt, 
    deckt sich vielmehr ganz mit unserem 
    geistigen Eigentum; aber die Widersprüche 
    bleiben doch ganz auf dem Boden der ΨΑ. 
    Manches gegen Ende über Therapie, Übertragg 
    etc. ist sogar vortrefflich. Dum̄ ist die 
    Einsetzg der Trägheit als aetiol.  Moment 

  • S.

    für den anstatt des Oedipuskomplexes. Die Trägheit ist 
    doch ein Weltgesetz, noch etwas allgemeiner 
    als der Ödp. Im ganzen habe ich die Gefahr 
    sehr aus der Ferne überschätzt.

    Die Berührgen mit Adler sind geringfügig. 
    Nur Adler’s Falkenblick konnte da den 
    Anlaß zur Prioritätsforderung finden. 
    Nebenbei ganz recht, wenn sich Adler und 
    Aiglon etwas mit den Schnäbeln zerhacken. 
    Wir wollen nicht dazwischenfahren.

    Ein anderes Abenteuer dieser Tage ist 
    ein impertinenter Brief von dem 
    Hochstapler Friedländer, dem seine 
    Integrität von einem Ehrengericht bescheinigt 
    worden ist und der mich wegen einer 
    bei Binswanger über ihn gethanen 
    Äußerung verklagen will. Ich hoffe, 
    meine Gewährsmänner lassen mich nicht im 
    Stich. Sie können sich denken, wieviel ich 
    mir sonst aus dieser Affäre machen 
    würde.

    So jetzt habe ich abgeplaudert, ohne 
    Ihre Antwort auf meinen letzten 
    Brief zu erwarten.

    Herzliche Grüße
    Ihr 
    Freud

    Am 13. dM. S. Martino.

    Anspielung auf Alfred Adler, 
    Aiglon: Französisch; Junger Adler.
    Bezeichnung für: Napoléon François Joseph Charles Bonaparte; * 20. März 1811 im Tuilerien-Palast in Paris; † 22. Juli 1832 in Schloss Schönbrunn bei Wien) , einziger Sohn von Napoleon Bonapartes und Marie-Louise von Österreich.
    Bezeichnung des Sohnes von Napoleons I, der die von seinem Vater in ihn gesetzten Hoffnungen nicht erfüllte. Er verstarb 21 jährig an Tuberkulose. 
    "L’Aiglon", ein  1900 erstaufgeführtes Drama  war ein damals viel gespieltes Stück von Edmond Rostand.
    Siehe auch: Rostand, Edmond (1900): L'Aiglon. Ein damals viel gespieltes Theaterstück in 6 Akten.
    Edmond Eugène Alexis Rostand
    (* 1. April 1868 in Marseille
    2. Dezember 1918 in Paris)
    Französischer Theaterschriftsteller.

    Biogr: 
    Falzeder: Freud, seine Frau Martha, Minna Bernays und Anna kamen am 11. August in San Martino di Castrozza an, wo Ferenczi vier Tage später zu ihnen stieß. Für ein paar Tage kam auch Abraham auf Besuch. Freud und Ferenczi fuhren dann gemeinsam nach München zur "IV. Privaten Psychoanalytischen Vereinigung" (7.-8.9.1913). Dort sprach Freud "Zum Problem der Neurosenwahl" (unter dem Titel >Die Disposition zur Zwangsneurose. Ein Beitrag zum Problem der Neurosenwahl< [Freud 1913i] veröffentlicht); Ferenczi "Zur Psychologie der Überzeugung" (>Glaube, Unglaube und Überzeugung<; 1913, 109). Die Atmosphäre des Kongresses war vor allem wegen des schwelenden Konfliktes mit Jung gespannt; bei dessen Wiederwahl zum Präsidenten enthielten sich zwei Fünftel der Mitglieder der Stimme (siehe auch unten Beilage zu 430 Fer). Schilderungen des Kongresses finden sich unter anderem bei Jones (II, S. 128-130), Clark (Freud, S. 376f.), Gay (Freud, S. 239) und in Freud/Jung, editorische Bemerkung nach 356 J, Briefwechsel, S. 610f. Vom Kongreß reiste Freud mit Minna Bernays, die sich ihm in Bologna anschloß, nach Rom, wo er 17 Tage lang blieb.

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