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S.
Prof. Dr. Freud
Wien, IX. Berggasse 19.21.5.11
Lieber Freund
Ich habe Sie haben sich unterdeß überzeugt,
daß Ihre Sorge um den Bruder wirklich
mehr auf jenseitigem als auf diesseitigem
Boden gewachsen war. Kranksein gehört
ja sonst zur Existenz als nie fehlender
Bestandteil (wie C H O N S in der chemischen
Analyse).Meine Frau ist heute mit Sophie zurückge-
kom̄en, beide erholt u letztere hoffent-
lich für längere Zeit gebessert. Ich
habe jetzt durch neue Patienten 4 ‑ 5
schwere Wochen vor mir, dann wol
einen sanften Abfall bis Ende der
Zeit.Ihre Kooperation mit Jung soll, wenn
sie überhaupt zu Stande kom̄t, Ergebnis
gegenseitigen Bedürfnisses sein, ganz
von mir unabhängig u sich langsam
gestalten. Ich glaube nämlich, er ist
im Grunde ein ungeselliger Arbeiter
Revidiren Sie also mit Rücksicht darauf
die Punkte Ihres Program̄s, die sich
auf den Aufenthalt in Zürich bei
ihm beziehen. Der Termin, den Sie für
Ihren Besuch bei uns bestim̄en,
Ende August, ist mir sehr recht. Wahrscheinlich -
S.
sind wir dann nicht mehr in Oberbozen.
Ich kann Ihnen verraten, daß meine
Frau nicht nach Zürich gehen will
oder wenigstens nicht den Aufenthalt
bei Jung teilen will, für den ich die
letzte Woche, die nach dem Kongreß,
bestim̄t habe, wenn er sich auf den 21/22
September verschieben läßt. Ihrer Diskretion
bin ich ferner sicher, wenn ich Ihnen
verrate, daß wir am 14 Sept vor 25
Jahren geheiratet haben. Es ist im Ganzen
recht gut, in manchen Stücken unge-
wöhnlich gut ausgefallen. Die Details
unserer Vorsätze um diese Mitte Sept
können noch nicht feststehen.Das Korrespbl (das ich nicht vergeßen,
sondern zu dick für den Brief
fand) wird Ihnen seither rite zugegangen
sein. Eigentlich wollte ich Ihnen nicht
eher schreiben, als bis ich mittheilen
könnte Adler u vielleicht noch
einige andere hätten auf eine kraft-
volle Aufforderung von meiner
Seite mit dem Austritt reagiert. Da
dieß aber noch nicht geschehen ist, wollte
ich nicht länger den Brief auf-
schieben. Um meine wachsende
Intoleranz zu verstehen u meine -
S.
Überzeugung, es sei kein
großer Verlust zu teilen, lesen Sie blos
das Referat über seinen letzten Vortrag
im Korrespondenzblatt.Forel hat mich mit der 6ten Auflage
seines „Hypnotismus“ beschenkt; was
aber drin über ΨΑ steht, ist in bedauer-
licher Weise schwachsinnig u vertritt
die ganz u gar nicht schwachsinnigen
Tendenzen von Frank und O. Vogt, deren
große – mir unbekannte – Verdienste,
es sind schwächliche Nachzügler, weiter
nichts – er nicht genug zu rühmen
weiß. Seine Argumente zB. gegen die
Sexualität sind wirklich betrübend
für einen Mann, der ein dickes Buch
über die sexuelle Frage geschrieben
hat. Es hat mich ausnahmsweise
einmal verstimmt.Es geht sonst hier nichts vor, sondern
wird auf das Erscheinen des Bevor-
stehenden gewartet. Ihren Aufsatz
über die obszoenen Worte mit dem
merkwürdig tiefreichenden Schluß
habe ich endlich für Ng gesetzt
gesehen. Sie haben ihn wol schon
zur Korrektur. -
S.
Nebenbei, ich kenne kaum ein täuschenderes
und kompliziertes Problem in unserem
Bereich als das des Masochismus. Ergeb-
nis ist vielleicht, daß die meisten
gleichzeitig Masochism und Sadismus
befriedigen. Was sie selbst erzälen,
ist nie recht entscheidend.Wir sammeln jetzt Symboldeutungen
weil wir einsehen, daß wir die
wichtige Arbeit von Stekel mit
besserer Kritik neu machen müßen,
u bitten auch um Ihre Beiträge
(an Rank zu richten). Er wird wol
zu allermeist Recht haben, aber in
seiner bekannten schlamperten,
gewissenlosen Art.Mich quält heute das Geheimnis
der tragischen Schuld, das der ΨΑ
gewiß nicht widerstehen wird,
aber ich will mich jetzt nicht
ablenken lassen.Herzliche Grüße
Ihr getreuer
FreudChemische Zeichen für die am häufigsten vorkommenden Elemente
C: Kohlenstoff
H: Wasserstoff
O: Sauerstoff
N: Stickstoff
S: Schwefel
Sieh auch: Freud, Sigmund; Bullit, W. C. (1966): Thomas Woodrow Wilson. Twenty-eight President of the United States. A Psychological Study. Boston und Cambridge 1966:37. "Die Psychoanalyse hat die Tatsache der Bisexualität so sicher bewiesen wie die Chemie jene, daß Sauerstoff, Wasserstoff, Kohlenstoff und andere Elemente in allen organischen Stoffen vorkommen" [Übersetzung Ernst Falzeder]rite: lateinisch; auf rechte, gehörige Weise
(zu: Referat über seinen letzten Vortrag im Korrespondenzblatt) Siehe Otto Rank (1910): Sitzungsbericht zum Vortrag von Alfred Adler. Zentralblatt 1910-11, 1:371
Augsut Forel
Der Hypnotismus. Seine Bedeutung und seine Handlung. In kurzgefasster Darstellung. Ferdinand Enke, Stuttgart 1889. [Volltext/Faksimile: https://archive.org/details/derhypnotismuss00foregoog/page/n4/mode/1up]
[Volltext/Faksimile: Der Hypnotismus. Seine psycho-physiologische, medicinische, strafrechtliche Bedeutung und seine Handhabung. 2. Auflage. Ferdinand Enke, Stuttgart 1891]
[Volltext/Faksimile: Der Hypnotismus und die suggestive Psychotherapie. Ferdinand Enke, Stuttgart 1888; 1902:
Die sexuelle Frage, München 1905(Frank und Vogt)
FN Ernst Falzeder: "Oskar Vogt (1870-1959), deutscher Hirnforscher. Direktor des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Hirnforschung in Berlin. 1909 hatten er, Forel (bei dem er Assistent gewesen war) und Frank die Internationale Gesellschaft für medizinische Psychologie und Psychotherapie gegründet. 1925 errichtete Vogt, Mitglied der Akademie der Wissenschaften in Moskau, dort ein Institut für Hirnforschung. Kritiker der Psychoanalyse (vgl. Jones II, S. 147)."Ferenczi, Sandor (1911): Über obszöne Worte, Beitrag zur Psychologie der Latenzzeit.
Ernst Falzeder: "Am Schluß dieser Arbeit drückt Ferenczi die Hoffnung aus, daß ethnographische Untersuchungen seine Annahme, obszöne Ausdrücke seien "infantil" und daher abnorm motorischen und regressiven Charakters, stützen könnten." (Ferenczi 1911:75)(Ng = Nürnberg): Man plante zu dieser Zeit, in Nürnberg den nächsten psychoanalytischen Kongress abzuhalten.
Ernst Falzeder: "Vgl. Freuds Anmerkungen zur Symbolik im Traum und zu Stekels Beiträgen in späteren Zusätzen zur Traumdeutung (1900a, S. 355ff)"
Ernst Falzeder: "Die Frage der "tragischen Schuld" des Helden einer Tragödie war von Freud schon in der Traumdeutung (1900a, S. 268) angedeutet worden und wurde von ihm später in Totem und Tabu (1912-13a, S. 187f.) und in Der Mann Moses und die monotheistische Religion (1939a[1934-38], S. 193) analysiert. Diese Stelle könnte ein erster Hinweis auf Freuds beginnende Arbeit an Totem und Tabu sein (vgl. auch 223 F)"
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VII Erzsebét-kőrút 54
Budapest 1073
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http://data.onb.ac.at/rec/AC16607581 Autogr. 1053/10(1-12) HAN MAG