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    S.1 Wien, 7.2.15. Lieber Freund Der Mechanismus der Melancholie, den ich Ihnen hier 
 vorstelle, gehört zum Anfang einer Erkenntnis der
 narzißtischen Neurosen, die wir jetzt anzustreben haben.1) Die Melancholie hat ein Normalvorbild in der Trauer, die 
 wir (bis auf die μψ Hauptsache) gut verstehen. Das Ich muß
 der Realitätsprüfg zugeben, daß es sein Libido-
 objekt verloren und seine Libido von ihm abziehen muß.
 Es kom̄t jetzt ein Prozeß zu Stande, in dem jede ein-
 zelne der Erinn̄erungen und Erwartungsphantasien mit
 diesem Objekt hergenon̄en u ausdrücklich ver-
 neint (aufgelöst) wird, während dessen das verlorene
 Objekt aber noch ψ Bestand hat u alle anderen
 Objekte in Hintergrund drängt. Wer diese Trauer-
 arbeit nicht zu Standegi¿
 halluz. Wunschpsychose begeben, in der das Objekt
 krampfhaft festgehalten wird, dh alles so vorgeht
 wie in der Trauer nur mit Auslassung der
 Verneinung am Ende.Charakter der Trauer ist die Aufzehrung alles 
 Interesses und aller Libido: Denselben Zug zeigt
 die Mel als Hemmung. Es liegt nahe anzunehmen,
 daß auch die Mel etwas verloren hat, aber viel-
 leicht nicht weiß was.(Das Unverständliche an der Trauer ist im metapsych. 
 Sinne, warum die Libidoablösung so wehe thut).2). Das Bild der Mel ist ein einförmiges und sehr leicht 
 zu deutendes. Die Mel zeigt eine großartige Ich-
 verarmung u eine schmerzlich gesteigerte Wahr-
 nehmung derselben. Ihre Selbstkritik ist über-
 stark bewußt und schildert uns ein Bild, das
 wir für richtig annehmen müßen. Das Ich ist
 entwertet, bleibt sehr weit hinter dem Ideal
 zurück, kann nichts leisten, muß sich die schwersten
 Vorwürfe gefallen laßen, verdient nicht
 gepflegt, besorgt zu werden. Das muß also wirk-
 lich der Zustand sein, in dem es sich befindet
 Bemerkenswert die Schärfe und Intakheit der
 Selbstbeobachtung (des Gewißens, der Ichzensur,
 des eigentlichen Ichs). Wie ist das Ich der Melanch
 aber in diesen Zustand gekom̄en? Was hat
 es angestellt, um solche Verurteilung zu ver-
 dienen?Editorische Anmerkung CD: 
 μψ. metapsychologische
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    S.2 3). Auf die unbekannte Spur wird man durch eine leicht 
 anzustellende Beobachtung gebracht. Man bekom̄t
 sehr oft den Eindruck, daß die Selbstvorwürfe
 der Mel nichts anderes sind, als Vorwürfe gegen
 einen anderen, die von ihm weg aufs eigene
 Ich gerichtet sind. Dann liegt also eine Identifizirg
 vor des Ichs mit dem Libidoobjekt. Das Ich trauert,
 weil es sein Objekt durch Entwertung verloren
 hat, aber es projizirt dies Objekt auf sich selbst
 u findet dann sich selbst entwertet. Der
 Schatten des Objekts fällt auf das Ich u verdunkelt
 es. Der Prozeß der Trauer vollzieht sich nicht
 an den Objektbesetzungen, sondern an den
 Ichbesetzungen4). Wir haben ähnliche Fälle von Beeinflußung der Ichbe- 
 setzung durch die Objektbesetzg bereits kennen
 gelernt. So im Liebesleben den, daß der Neurotiker
 seinen Ichmängeln durch die Vorzüge des Sexualob-
 jekts aufhilft. Wir kennen auch eine hysterische
 Identifizirung u müßen fragen, wodurch sich die von
 der bei Mel vorliegenden unterscheidet. Bei der
 hy. Identifizirg wird auch das Ich nach dem Objekt ge-
 modelt aber die Objektbesetzung wird nicht auf-
 gelassen, besteht im Ubw überstark und macht sich
 das Ich (mitsamt der Ichzensur) unterthan. Bei der
 narzißt. Identifizirg der Mel wird die Objektbesetzg
 aufgehoben, das Ich übernim̄t ihre Gestaltung und
 die Ichzensur bleibt intakt. Anstatt des Konflikts
 zwischen Ich und Objekt giebt es jetzt einen zwischen
 Ich‑Objekt und Ichzensur. In beiden Fällen ist aber
 die Identifizirg Ausdruck der Verliebtheit.5). Die besonderen Bedinggen des Mechanismus sind 
 noch nicht untersucht. Daß es so häufig anaesthetische
 Individuen sind, die der Mel verfallen, ist
 gewiß bedeutsam. Überwiegen der narzißt.
 Objektwal, Unfähigkeit zur Objektbesetzg
 scheint Bedingung. Auch die Manie ist nicht aus
 diesem Mechanismus der Mel erklärt. Sie scheint
 die Aufhebung der intakten Ichzensur zur
 Bedingung zu haben.Um Ihre Bemerkungen bittet 
 mit herzl.Gruß
 FreudAnmerkung Ernst Falzeder (siehe auch publizierte Korrespndenz Freud-Ferenczi) 
 Dieser bisher unbekannte Entwurf von Trauer und Melancholie (Freud 1916-17g [1915]), den Ferenczi dann an Abraham weiterschickte (siehe den nächsten Brief, sowie Freud/Abraham, 18.2.1915, Briefwechsel, S. 202 und Abrahams unveröffentlichten Brief an Freud vom 5.3.1915 [FM]), wurde von mir in den Freud Archives (LOC, container B7) im November 1991 gefunden und, da er zweifellos zumindest auch an Ferenczi gerichtet war, an dieser Stelle nachträglich und ohne Numerierung eingereiht. Er ist nicht auf Briefpapier geschrieben, sondern auf die großformatigen Bögen, die Freud für seine Manuskripte zu verwenden pflegte. […]
 (Ernst Falzeder)
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