• S.

    Prof. Dr. Freud                           
    Wien, IX. Berggasse 19.

     2.4.11

    Lieber Freund

    Gestern abends dachte ich mir, es ist sonder-
    bar, daß Sie mir so selten schreiben, als 
    ob wir einander nichts mehr zu sagen 
    hätten. Dann erinnerte ich, daß ich noch 
    eine Antwort schuldig sei u beschloß 
    sie heute zu leisten. Da kam Ihr Brief.

    Ihr erster Brief hätte eher eine 
    persönliche Aussprache als eine schriftliche 
    Antwort erwünscht gemacht. Ich wage 
    im̄erhin einen kleinen Vorschlag in 
    der Voraussetzung, daß nur wesent-
    liche Erwägungen u nicht sekundäre Rück-
    sichten Sie bei der Beurteilung desselben 
    leiten werden. Ich will die Ostertage 
    zu einer kleinen Reise verwenden, etwa 
    Donnerstag abds von hier wegfahren, Dienstag 
    früh wiederkom̄en. Ziel: der Ritten 
    bei Bozen und das Val Sugana (bei 
    Trient), wo ich einige Wohnungspläne 
    ins Auge gefaßt habe. Wollen Sie 
    mitthun – ich bin sonst allein –, so sind 
    Sie hochwillkom̄en, aber zwingen 
    Sie sich nicht. Natürlich kann ich eine 
    Abänderung des Reiseziels jetzt noch 
    nicht ausschließen.

  • S.

    Mein Wunsch in betreff des Kongreßes 
    deckt sich ganz mit Ihrem, aber Jung hat 
    Recht, wenn er den Wünschen der Anderen 
    Rechnung trägt. Es dürfte nicht Nürnberg 
    sondern München werden, falls die Unter-
    kunft keine Schwierigkeiten macht. 
    Wien ist ziemlich ekelhaft. Ich trete 
    etwas herrischer auf u kann mich immerhin 
    auf eine Anzal Getreuer stützen. 
    Rank geht auf drei Wochen nach Griechenland 
    mit der Universitätsreise. Stekel 
    habe ich geschrieben, daß Jung eine Kritik 
    seines Traumbuches von mir verlangt, daß 
    diese Kritik „bipolar“ ausfallen müßte 
    u ob er etwas dagegen hat, in welchem 
    Falle ich es unterlassen würde. Fordert 
    er mich nicht prahlerisch auf, die Kritik 
    zu schreiben, so sind wir allerdings 
    in großer Verlegenheit, aus der Ihr 
    Angebot uns reißen könnte. Ich 
    danke Ihnen also für die Bereitwillig-
    keit. Putnam nim̄t man für soviel 
    in Anspruch, daß man ihm die Rein-
    igung unserer eigenen schmutzigen 
    Wäsche unmöglich zumuten kann.

    Ich bin körperlich recht wol, kom̄e mit 
    meinem Blinddarm schön weiter 
    u arbeite darum nichts. Ich weiß seit 
    langem, daß ich in ganz guter Gesundheit 

  • S.

    nicht fleißig sein kann, sondern ein 
    Stück Unbehagen brauche, von dem ich 
    mich losreißen soll. Die Paranoiaarbeit 
    ist fast zu Ende korrigirt u hat mir 
    allmälig mehr gefallen.

    Jones scheint in Toronto zu wackeln, seine 
    Unstetigkeit findet wiederum Vorwände. 
    Er wird uns dort sehr fehlen. Jung war 
    in diesen Tagen in Berlin auf der 
    Klinik von Kraus u berichtet, daß dort 
    alles infizirt ist. Er hat eine glänzende 
    Aufnahme gefunden. Kraus selbst 
    war schon auf Urlaub. Honegger, auf 
    den ich viel Hoffnung setzte, hat sich 
    mit Morphium vergiftet. Schade um 
    die Chance! Maeder ist bei Bircher‑Benner 
    (Anstalt „Lebendige Kraft“), ich konnte 
    ihm in voriger Woche 2 Patienten 
    schicken. Bleuler schreibe ich manchmal, 
    allein er ist wieder gefroren u steif. 
    Er hat indeß versprochen, im Zentralbl. 
    über den „Berliner Kongreß“ zu refer-
    iren, überhaupt als „Landesverteidigungs-
    minister die ernsteren Gegner 
    zu übernehmen.

  • S.

    Oli ist gestern aus seinen lange gesparten 
    Geldern nach London abgereist. Unge-
    fähr in seinem Alter machte ich auch 
    nach England meine erste Reise. 
    Martin ist auf ein Jahr zurückgestellt. 
    Sophie wartet schmerzlich auf Karlsbad
    wird gleich nach Ostern abreisen. Das 
    wären unsere privaten Nachrichten.

    Ich grüße Sie herzlich u sehe Ihrer 
    Antwort entgegen.

    Ihr 
    Freud

     

    Rank geht auf drei Wochen nach Griechenland mit der Universitätsreise.: Freud "hatte ihm das Geld dafür gegeben, um ihn für seine große Arbeit bei der dritten Auflage der 'Traumdeutung' zu entschädigen" (Freud/Jung, 27.4.1911, Briefwechsel, S. 462).

    daß diese Kritik „bipolar“ ausfallen müßte: Anspielung auf Stekels, dem Bleulerschen Ambivalenzbegriff vergleichbares, Konzept der Bipolarität von Affekten und Symptomen (vgl. Protokolle II, S. 359f., 393, 410 und III, S. 82). Freud verlas dann den Entwurf seiner Rezension (siehe 209 F) von Stekels Arbeit am 26. April in der Wiener Vereinigung (Protokolle III, S. 225 und unten 214 F), veröffentlichte sie aber nicht.

    Paranoiaarbeit: Die Schreber-Analyse (Freud 1911c[1910]).

    Jones scheint in Toronto zu wackeln: Jones war damals Associate Professor an der medizinischen Fakultät in Toronto (Kanada). Im Jänner hatte eine ehemalige Patientin dem Präsidenten der Universität gegenüber behauptet, Jones habe sie sexuell missbraucht, und hatte gedroht, ihn zu erschießen. Jones hatte ihr daraufhin $ 500 gegeben (Hale, Putnam, S. 252-256). Obwohl ein Skandal vermieden werden konnte, bestärkte die Affäre Jones in seinem Entschluß, Toronto zu verlassen; im Juni 1912 kehrte er für ein paar Monate, 1913 dann endgültig nach Europa zurück.

    Klinik von Kraus: Friedrich Kraus (1858-1936), Professor der Medizin in Berlin und Leiter der dortigen medizinischen Klinik an der Charité.

    mit Morphium vergiftet: Honegger (siehe 126 F, Anm. 6) hatte sich am 28. März in der Klinik Rheinau, wo er seit zwei Monaten Assistenzarzt war, das Leben genommen.

    „Berliner Kongreß“ zu referieren:   >Freud'sche Theorien in der IV. Jahresversammlung der Gesellschaft Deutscher Nervenärzte, Berlin, 6.-8. Oktober 1910<; Zentralblatt, 1910-11, 1: S. 424-427.

    Ungefähr in seinem Alter machte ich auch nach England meine erste Reise.: Im Sommer 1875 hatte Freud, damals 19 Jahre alt, seine Halbbrüder Emanuel (1833-1914) und Philipp (1836-1911) in Manchester besucht. In Briefen an seinen Jugendfreund Eduard Silberstein schilderte Freud seinen positiven Eindruck von England und daß er "dort lieber wohnen würde als" in Wien (9.9.1875, Jugendbriefe an Eduard Silberstein 1871-1881, hg. von Walter Boehlich, Frankfurt/M. 1989, S. 144).