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19. 1. 08
PROF. DR. FREUD WIEN, IX. BERGGASSE 19.Sehr geehrter Herr College
Ich beantworte Ihren Brief heute vor allem in der Absicht, Ihnen für die Anerbietung zu danken, die Sie uns für den Fall der Reise meiner Frau und Tochter nach Berlin gemacht haben. Diese Reise mußte aufgegeben werden, da meine Tochter am Tag vor dem dazu bestimmten Termin unter Peritonealerscheinungen fieberhaft erkrankt ist. Unsere Ärzte schließen auf einen Abszeß um einen Faden, der nach der schlechten Blinddarmoperation vor zwei Jahren liegen geblieben ist, erklären den Zustand für nicht bedenklich; doch wird er wohl einen operativen Eingriff notwendig machen.
Wenn ich Ihnen als erfahrener Alter raten darf, so betreiben Sie die Psychoanalyse bei dem O[ppenheim]’schen Patienten kühl ohne viel "Sexualverlegung", und ohne das Bestreben, O. durch einen raschen Erfolg zu imponieren. Denn erstens wird es dann besser gehen, und zweitens ist der Fall nicht geeignet, zum Paradepferd entwickelt zu werden. So alter Zwang bei einem Mann nahe der 50 ist technisch sehr schwierig und therapeutisch recht ungünstig. Zwangsneurose muß früh behandelt werden, bei noch jungen Personen, dann ist die Kur Triumph und Vergnügen. Lassen Sie sich aber nicht entmutigen, und behalten Sie den Mann möglichst lange, solche Pat. pflegen sich leicht zu attachieren und sind oft zufrieden, wenn der Arzt nicht zufrieden ist. Im Einzelnen will ich Ihnen dann immer mitteilen, was ich aus der Entfernung erraten kann, und so den Mangel, daß die Technik noch nicht im Einzelnen publiziert ist, -
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zu korrigieren suchen. Der Umschlag vom Beten in Gottesleugnen ist für diese Zwangsneurose charakteristisch (typisch). Von Anfang an müssen sie beide - kontradiktorische - Stimmen zum Ausdruck bringen, meist nebeneinander. Daher auch ihre Entschlußfähigkeit wegen Gleichheit beider Seiten der Motivierung. Z.B. ein Pat sieht einen Stein auf der Fahrstraße liegen, er muß ihn zwangsweise wegräumen; dann läßt er ihm keine Ruhe und er muß ihn wieder zurücklegen. Aufklärung: die Geliebte soll an dem Tag abreisen, sie wird im Wagen über diese Straße fahren. Vielleicht stolpert der Wagen gerade über diesen Stein; also weg mit ihm. Und darauf: Nein, sie soll nur mit dem Wagen umkippen, also zurück mit ihm. Er hat gleichzeitig Überzärtlichkeit und Haß für die Geliebte im Unbewußten!
Für die 3 schönen Tr[äume danke ich Ihnen sehr. Die Ihrer Frau, Seehund und Godiva, sind reizend. Ich will sie aber lieber nicht benützen, wenn Sie - offenbar wegen des Züricher Leserkreises - die Öffentlichkeit scheuen. An Material habe ich keinen Mangel und Entstellungen möchte ich möglichst vermeiden.
Nochmals von der Technik! Sie haben recht, das war der sauerste Erwerb und gerade darum möchte ich Nachfolgenden ein Stück der Plage und des - Lehrgeldes ersparen.
Ihr herzlich ergebener
Freud
Berggasse 19
Wien 1090
Österreich
Schönberger Ufer 22
Berlin 10785
Deutschland
C14F25