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    [Briefkopf Wien] 29. 5. 18 Lieber Freund Sie passieren eine trübe Zeit, merke ich. Wie sollte ich es Ihnen übel nehmen, daß Sie nicht öfter schreiben? Ich weiß, Sie schreiben gerne, wenn es Erfreuliches gibt, aber das kann wahr- scheinlich nicht immer sein. Meine Mutter wird heuer 83 Jahre alt und ist nicht mehr recht solid. Manchmal denke ich, es wird ein Stück Freiheit mehr für mich sein, wenn sie stirbt, denn die Annahme, daß man ihr mitteilen muß, ich sei gestorben, hat etwas, wovor man zurückschreckt. Ich bin also wirklich 62 Jahre alt geworden und bringe es noch immer nicht zu jener stillen, starken Resignation, die Sie als Deutschen so auszeichnet, wiewohl Sie sich eines italienischen Mottos bedienen. Meine herrschende Stimmung ist ohnmächtige Erbitterung, oder Erbitterung über meine Ohnmacht. Vielleicht erinnern Sie selbst ein Beispiel davon aus letzterer Zeit. Reik hat uns vor 14 Tagen einen sehr schönen Vortrag über Kol Nidre gehalten; er ist auf die Bibelexegese gestoßen und will lange bei ihr verweilen. Aber Donnerstag morgens iben. Ihr Freud

  • S.

    ist er auf den Monte Asolone, wo jetzt heftige Kämpfe sind, abgereist. Er ist eine unserer Hoffnungen. Meine drei Söhne sind gegenwärtig außerhalb des Feuers. Ferenczi gibt sich große Mühe, uns wieder auf die Tatra zu schaffen, wo er die Ferialzeit mit uns verbringen kann. Es dürfte ihm für die Hälfte der Zeit gelingen, die andere ist noch unausge- füllt. Ich habe sehr viel zu tun, arbeite aber schon verdrossen. Ein eigentümlicher Zug dieser Zeit seit etwa einem Jahr, den ich noch nie erwähnt habe, ist die Versorgung durch Patienten und befreundete Anhänger. Wir leben eigentlich von milden Spenden wie eine Arztensfamilie der Vorzeit. Zigarren, Mehl, Fett, Speck usw. bekommen wir entweder geschenkt oder zu unerhört mäßigen Preisen durch unsere Ungarn, Ferenczi und Eitingon obenan, dann einige Budapester Familien, die zur Psychoanalyse halten, aber auch hier habe ich solche Nährjünger gefunden. Ich lasse mich jetzt von einem der Kunst wiedergegebenen Pat. zeichnen, das letzte, was ich für die Nachwelt tun will. Ich grüße Sie und Ihre Frau herzlich und verlange nichts Besseres, als daß auch Sie mir von sich schre