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5. 7. 07
Prof. Dr. Freud IX., Berggasse 19.Sehr geehrter Herr College
Ich habe Ihre scharfsinnigen, und was mehr bedeutet, triftigen Erörterungen mit ganz besonderem Interesse gelesen und will, ehe ich auf dieselben eingehe, nur eine Möglichkeit aus dem Wege räumen, daß Sie in meinen Bemerkungen: Das haben wir schon gewußt, oder: das habe ich mir ähnlich gedacht, einen Anspruch nach irgend einer Richtung erblicken. Ich bitte Sie auch, sich meiner Mitteilungen nach Ihrem Belieben zu bedienen. Ihnen ist natürlich der Irrtum erspart geblieben, durch den ich passieren mußte, die sexuellen Traumen für die eigentliche Ätiologie der Neurose zu halten. Ich wußte damals noch nicht, daß diese Erlebnisse sehr allgemein sind, und als ich es erfuhr, habe ich mich noch -
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glücklich auf die p.sex Constitution wenden können. Indes ist es wirklich heilsam, wenn jemand die Bearbeitung dieser sexuellen Traumen unternimmt, der nicht wie ich durch jenen ersten großen Irrtum unsicher gemacht worden ist. Das Zwingende liegt für Sie wie für mich darin, daß diese Traumen formgebend für die Symptomatik der Neurose werden.
Ein Bedenken, das für die Hysterie gewiß gültig ist - ich weiß nicht, ob ebenso für die Dementia Praecox - darf ich Ihnen nicht verschweigen. Der Hysteriker entfernt sich später sehr weit vom kindlichen Autoerotismus, er übertreibt die Objektbesetzung (darin das Gegenstück zum Voll-Dementen, der ja nach unserer Supposition zum Autoerotismus zurückkehrt). Dementsprechend phantasiert er sein Objektbedürfnis in die Kindheit zurück und überzieht die autoerotische Kindheit mit Liebes- und Verführungsphantasien. Etwa wie Verliebte, die sich nicht mehr vorstellen können, sie hätten sich zu irgendeiner Zeit nicht gekannt, -
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auf lockere Stützpunkte hin frühere Begegnungen und Beziehungen konstruieren, d. h., ein Teil der sexuellen Traumen, von denen die Kranken berichten, sind Phantasien oder können es sein; die Unterscheidung von den so sehr häufigen echten ist nicht leicht, und die Schwierigkeit dieser Verhältnisse sowie die Beziehung der sexuellen Traumen zum Vergessen und Erinnern ist einer der großen Gründe, weshalb ich mich zu einer abschließenden Darstellung nicht bewegen kann.
Nach meinen Eindrücken ist nun die Periode von 3 bis 5 Jahren diejenige, in welche die Determinierung der Symptome zurückreicht, Traumen später sind meist echt, frühere oder in diese Zeit fallende zunächst zweifelhaft. Hier ist also eine durch Beobachtung auszufüllende Lücke. Die Multiplizität der Traumen kenne ich auch zum Teil von grellen Beispielen. Sie ist zum Teil Folge des Phantasierens, zum anderen Teil aber rührt sie wohl daher, daß die Bedingungen für solche Erlebnisse in gewissem Milieu sehr günstig, in anderem spärlich sind. In meinen Fällen der letzten Jahre, aus sehr guten -
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Gesellschaftskreisen, sind sexuelle Traumen vor 5 Jahren entschieden gegen den Autoerotismus sehr zurückgetreten. Von 8 Jahren an wimmeln natürlich die Gelegenheiten in allen Gesellschafts<klassen>.
Die Frage, warum die Kinder von den sexuellen Traumen nicht berichten, hat sich auch uns hier aufgedrängt und ist von uns ebenso wie von Ihnen dahin beantwortet worden, daß die Kinder dann schweigen, wenn sie Lustgewinn gehabt haben. Wir haben uns so das Rätsel erklärt, daß man von den Mißhandlungen der Kinderfrauen und Gouvernanten erst lange Zeit nach deren Entlassung erfährt, wo doch das Kind des Schutzes von den zärtlichen Eltern sicher sein könnte. Der Masochismus hat das Geheimnis bewahrt. Übrigens ist das Benehmen erwachsener Mädchen meist analog und dürfte die gleiche Motivierung haben. Ihre Bemerkung von der Verschiebung des Schuldbewußtseins ist unzweifelhaft ganz richtig. Warum erzählen aber manche Kinder doch davon? Den anderen eine abnorme Organisation zuzuschreiben, -
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geht darum schwer, weil diese abnorme Konstitution die allgemein infantile ist. Es handelt sich vielleicht wieder um ein mehr oder minder anstatt um eine scharfe Scheidung, und das sexuelle Trauma würde dann seine pathogene Wirkung entfalten, Lust und Schuldbewußtsein auslösen, wo es auf einen Boden kräftiger autoerotischer Vorbereitung trifft.
Die beiden Hauptpunkte Ihrer Auseinandersetzung, die unbewußte Absicht beim Erleben der sexuellen Traumen und die abnorme Konstitution, leuchten mir sehr ein, nur daß mir alles mehr verschwimmt, d. h. sich in Reihen auflöst. Die Konstitution ist, wie gesagt, in gewissem Sinne allen Kindern eigen, und man kann bei x2 Gesunden dieselben infantilen Perversitäten, Analerotik etc. auffinden. Allerdings ist die perverse Begabung speziell der Hysterie größer anzunehmen als die der im Kern Gesunden. Das Urteil hierüber wird dadurch gestört und erschwert, daß so oft die späteren Lebensschicksale das ausschlaggebende Moment werden und die Kindererlebnisse in die Rolle der Disposition zurückdrängen, von der glücklicherweise nicht Gebrauch gemacht -
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wurde. Die unbewußte Absicht - ich meine selbst für eine Anzahl von kindlichen Personen gilt Ihre Auffassung in aller Schärfe - müßte man doch insofern modifizieren, als der Unterschied zwischen Bewußtsein und Unbewußtem in frühem Kindesalter noch nicht konstituiert ist. Das Kind reagiert wie zwangsartig auf sexuelle Impulse, also eigentlich wie unbewußt, nur daß es dabei zu keinem inneren Gegensatz kommt.
An einer Stelle der Traumdeutung glaube ich darauf hingedeutet zu haben (oder in einem anderen Aufsatz? Ätiologie...), daß die Theorie in dem Phänomen der sexuellen Latenzzeit die Grundbedingung der Neurosenmöglichkeit erblicken kann. Das Kind ist zur psychischen Bewältigung stärkerer sexueller Eindrücke nicht ausgerüstet und reagiert daher gegen sie zwangsartig, wie unbewußt - das ist die erste Lücke im Mechanismus; diese Eindrücke entfalten in Folge der somatischen Verstärkung der Sexualentbindung später, nachträglich und als Erinnerungen -
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stärkere Wirkungen denn damals, als sie reale Eindrücke waren, und dies ist die zweite psychologische Lücke, weil diese Konstellation der nachträglich verstärkten Erinnerungslust die Verdrängung ermöglicht, die gegen Wahrnehmungen nicht gelingen würde. Weiter bin ich auch heute nicht gekommen und fühle doch, daß da noch gründliches Durcharbeiten nottut. Trotz dieser meiner Bedenken oder vielmehr Unsicherheiten kann ich Ihnen zugeben, daß ganze große Stücke Ihrer Aufstellung einen bestechenden, ja überzeugenden Eindruck machen; ich denke vor allem das, was sich auf etwas später erlebte Traumen bezieht. Lassen Sie sich darum nicht abhalten, mir Weiteres von Ihren Erfahrungen mitzuteilen. Ich will Ihnen gerne alles dazu sagen, was ich weiß oder mir denken kann, und bitte Sie sehr zu entschuldigen, daß meine diesmaligen Reaktionen so armselig ausgefallen sind.
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Jedenfalls haben Sie das Problem am richtigen Ende angepackt und dort überdies, wo die meisten nicht hinfassen wollen. Ich bin auch besonders erfreut, daß der Gesichtspunkt des Autoerotismus bei der Dementia Praecox Ihnen hoffnungsvoll scheint. Nur müßte man den normalen Autoerotismus der Kindheit dagegen abwägen und bloß die Rückkehr zum Autoerotismus für die Demenz postulieren. Ich bin sehr froh zu wissen, daß Sie alle in Zürich mir diese schweren Arbeiten aus der Hand nehmen. Ihre jungen Jahre und frischen Kräfte, die Ersparnis, die Sie an meinen Irrwegen machen können, das alles verspricht das Beste.
Ich bin mit herzlichem Dank und Erwartung Ihrer freundlichen weiteren Mitteilungen
Ihr ergebener
Dr. Freud