• S.

    Karlsbad
    PROF. DR. FREUD        WIEN, IX. BERGGASSE 19.
           29. 7. 14.

    Lieber Freund
    Wo sind Sie und was gedenken Sie zu tun?
    Haben Sie sich die Ruhe re bene gesta so
    vorgestellt? Können Sie mir vielleicht sagen,
    ob wir alle in zwei Wochen mit halber
    Beschämung an die Aufregung dieser Tage denken
    werden oder ob wir der Entscheidung der
    Geschicke nahe sind, die uns seit Jahrzehnten
    drohen? Wissen Sie, ob wir heuer zu einem
    intimen Kongreß werden vereinigen können?
    Niemand weiß das, und die Fülle von un-
    verbürgten Nachrichten, die Flut und Ebbe
    von Hoffnung und Schrecken, muß jedem
    von uns das seelische Gleichgewicht stören.
    Wir sind hier, einsam mit dem Warten
    auf Briefe, die verspätet ankommen, und
    dem Schreiben von Briefen, die unregelmäßig
    abgehen, beschäftigt, hoffen Klbd am Montag
    3. verlassen zu können, da der Verkehr
    nach Deutschland frei bleibt, um von
    München aus doch nach irgendwelchen
    Aufhaltungen in Seis zu landen. Wir sind
    überglücklich, daß keiner unserer Söhne
    u Schwiegersöhne persönlich betroffen
    ist, und schämen uns dessen doch eigent-
    lich angesichts der Fülle von Opfern
    um uns herum. Das Wetter ist so

  • S.

    grausam schlecht, als wäre es bloß eine Projektion
    der menschlichen Stimmungen in dieser
    Zeit. Eitingon wollte mich besuchen, aber der
    Kriegslärm kam dazwischen; unsere Depeschen
    brauchten 24 Stunden, u da bat ich ihn, davon
    abzusehen. Der große Kampf würde doch alles
    Interesse an dem kleineren ersticken,
    den wir jetzt glücklich beendet haben.
    Ich bin froh, daß ich zwei technische Artikel
    noch in den ruhigen Tagen fertig gemacht
    habe, einen über die Übertragungsliebe und
    einen betitelt: Erinnern, Wiederholen
    und Durcharbeiten. Ich glaube, meine Darstel-
    lung hat sich geändert, ich bin aufrichtiger,
    kühner u rücksichtsloser geworden seit
    der Abrechnung. Jetzt kann ich mir noch
    nicht vorstellen, daß ich etwas Neues anfange.
    Zuerst eine Änderung der Szenerie.
    Jones schreibt heute wörtlich, was ich zu Ihrer
    Erheiterung hersetze: “I had a long talk with
    Mrs Eder last week, who has just had a month’s
    analysis with Jung . . . . You may be interested
    to hear the latest method of dealing with Über-
    tragung. The patient overcomes it by learning
    that she is not really in love with the analyst
    but that she is for the first time struggling
    to comprehend a Universal Idea (with capitals)
    in Plato’s sense; after she has done this, then
    what seems to be the Übertragung may remain.”
    Risum teneatis, Casimiri!

    Auf Nachrichten von Ihnen gespannt
    Ihr getreuer Freud