• S.

    30. XII. 06

    Sehr geehrter Herr College

    Vielleicht können Sie von folgender Beobachtung 
    trotz ihrer Flüchtig­keit etwas machen brauchen: 

    Ich wurde als Consiliarius zu einer 26j. Frau gerufen, 
    die 6 Wochen nach dem ersten Kind ist und 
    deren Zu­stand sich seit etwa der Mitte der 
    Gravidität entwickelt hat. Der Haus­arzt, der 
    unserer Gesichtspunkte ziemlich unkundig ist, 
    berichtet, die Frau begründe eine schwere Depression 
    mit der Anklage, daß sie sich „blöd“ gemacht 
    habe durch die Gewöhnung ihrer Kindheit, den 
    Harn so lange zurückzuhalten, bis ihr die 
    Entladung sexuelle Gefühle berei­ten konnte. 
    Das habe sie noch eine Zeit lang in die Ehe 
    fortgesetzt, spä­ter aber aufgegeben (von wo an 
    wahrscheinlich die Erkrankung einge­setzt). Sie schloß 
    eine Liebesheirat nach langen Kämpfen in 
    der Fa­milie u nach sechsjähriger Bekanntschaft, 
    liebt ihren Mann sehr (er ist Schauspieler), blieb 
    aber im sexuellen Verkehr ganz anaesthetisch. 
    Pat. fügt dem hinzu, sie habe nie daran gedacht 
    daß ihr Mann an ihrer Unbefriedigg Schuld sein 
    könne, wiße ganz genau, es sei nur ihre 
    Schuld. Der Ausbruch ihrer Verstimmung hing 
    wahrscheinlich mit den Erwartungen zusam̄en, 
    die sich an die bevorstehende Entbindung knüpften. 
    Sie behauptete im̄er, sie werde nicht im Stande 
    sein, ein Kind normal zur Welt zu bringen, 
    u als ein forceps notwendig wurde, triumphirte 
    sie, sie habe Recht behalten. Von dem Kinde 
    be­hauptet sie allen Ernstes, es sei hoffnungslos 
    „blöd“. Sie hat widerholt, nicht ganz unversicherte 
    Selbstmordversuche gemacht und dem Manne 
    tieftraurige Abschiedsbriefe geschrieben. Ein-
    mal ging sie sogar durch, begab sich aber nur 

  • S.

    zu einer Schwester, bei der sie Klavier spielte. 
    Das Kind hat sie manchmal geschlagen. Befragt, ob 
    sie es liebe, antwortet sie: Ja, aber es ist nicht 
    das Rechte.

    Erregungszustände von manischem Charakter fehlen 
    nicht ganz. Auf­ fällig sind Äußerungen, die 
    einen Größenwahn durch ihre Krankheit begründen. 
    Ein solcher Zustand wie der ihrige sei noch nie 
    dagewesen, die Ärzte könnten ihr nicht helfen 
    und würden lange brauchen, sie zu verstehen. 
    Sie argumentirt sehr scharfsinnig, ist völlig unzu-
    gänglich gegen Einreden, versichert, daß sie 
    sich an ihr Leben und auch an die Dinge, deren 
    sie sich anklage, sehr schlecht erin̄ere. Es sei 
    eben die „Verblödung“ in ihrem Gehirn, sie 
    könne nichts scharf denken, sich nichts überlegen, 
    nur ihre Krankheit sei ihr ganz besonders 
    klar. Ob­wol sie im ganzen einen traurigen 
    Eindruck macht, ist doch eine un­natürliche 
    Geziertheit in ihren Reden und Bewegungen 
    unverkennbar. Der Hausarzt sagt, sie kom̄e 
    ihm vor wie eine Schauspielerin. Ihre Reden 
    begleitet sie übrigens mit perverser Mimik 
    (Augenbewegungen, wie ich sie eigentlich nur 
    bei Paranoia gesehen habe).

    Das würde man nun früher masturbat. Irresein 
    geheißen haben, was ganz verwerfliche Namen-
    gebung ist. Halten Sie es nicht für De­mentia 
    praecox? Ist Ihnen die Preisgebung der bei 
    Hysterie so sorgfäl­tig gehüteten Aetiologie 
    bei diesem Falle nicht interessant?

    Mehr war nicht zu eruiren. Der Fall ist ein 
    initialer, ich werde ihn nach Wochen wahrscheinlich 
    wiedersehen. Verzeihen Sie die Belästi­ gung.

    Ihr collegial ergebener
    Dr Freud