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    PROF. DR. FREUD   WIEN, IX. BERGGASSE 19.

    31.3.12

    Lieber Freund

    Ich habe mich sehr gefreut zu hören, daß Ihnen 
    jetzt nach Beendigung der Libidoarbeit 
    einige Wochen Erholung winken. Ich selbst 
    gehe wahrscheinlich mit Ferenczi über die 
    drei Ostertage nach der Adria. Sie wissen, 
    meine Ferien sind dann im Som̄er aus-
    giebig genug.

    Von der Arbeit der Spielrein kenne ich 
    nur ein Kapitel, das sie im Ver­ ein ver-
    lesen hat. Sie ist sehr gescheit; alles, was sie 
    sagt, hat Sinn, ihr Destruktionstrieb ist 
    mir nicht sehr sympathisch, da ich ihn für 
    persön­lich bedingt halte. Sie scheint mehr 
    Ambivalenz, als normal ist, zu führen. 

    Bleulers Manuskr. habe ich sofort abge-
    geben. Das Jahrbuch ist auch dießmal sehr 
    stattlich, aber es fehlt ein eigentlicher clou
    Pfisters Lei­stung ist ein technisches Kunststück, 
    gewiß richtig, aber den theologisch interessanten 
    Details geht oft das allgemeine Interesse 
    ab. Wahrschein­lich kom̄t dieser Eindruck des 
    Vermissens vom Aufschub Ihrer „Wand-
    lgen u Symbole.“

    Wir arbeiten fleißig im Verein und 
    am Zentralbl und bedauern sehr, daß 

  • S.

    die Unterstützung von Zürich auszubleiben 
    beginnt, wäh­rend das Ausland sich uns gut 
    anschließt. In Rußland (Odessa) herrscht 
    zur Zeit eine lokale Epidemie in ΨΑ. 
    Auch sonst gäbe es allerlei Ein­zelheiten 
    aus dem weiter gährenden Kampf die 
    aber des Kränkens (Schreibens!) nicht wert sind.

    Stegmann hat sich in klassischer Weise für 
    seine Unarten durch seine Ehewahl be-
    straft. Er heiratete zuerst, kam dann 
    zu mir, um sich dann selbst zu sagen, umge-
    kehrt wäre doch rationeller gewesen. 
    Ich habe auch den Eindruck, daß Binswanger 
    sich bei aller Korrektheit etwas in 
    den Hintergrund drückt.

    Meine Tabuarbeit, im Resultat längst 
    entschieden, rückt langsam vor­ wärts. 
    Das Tabu kom̄t von der Ambivalenz 
    u damit ist auch der Ursprung des Gewißens 
    entschieden. Die Imago wird vielleicht 
    schon das Licht der Welt erblickt haben, 
    wenn Sie diesen Brief lesen.

    Ich grüße Sie und Ihr Haus herzlich 
    u hoffe Gutes von Ihnen zu hören. 
    Ihr getreuer 
    Freud

    Odessa] Zwei Mitglieder der Wiener Vereinigung, Leonid Drosnes und  Moshe Wulff lebten  Odessa.