• S.

    PROF. DR. FREUD.   WIEN, IX. BERGGASSE 19.

    Noordwijk 18.8.10.

    Lieber Freund

    Zu Anfang dieses Sommers nahm mich in den Anlauf 
    Sie mit Briefen zu verschonen, aber es ist anderes 
    bestimmt, und ich muß Ihnen jetzt wiederum 
    schreiben. Ich habe das Jahrbuch erhalten u darf 
    nicht versäumen Ihnen Dank u Anerkennung 
    auszusprechen. Endlich sieht man Sie als Redakteur 
    im Sattel u verspürt ihre feste Hand. Die Bemerk-
    ungen über Wittel sind überlegen weise, 
    ein Programm, u zwar eines, das mehr aus 
    tiefen Schichten der Seele geschrieben ist. Wir 
    verstehen einander. Die reizende Kindergeschichte 
    (über Anna u Sophie vergl Worcester) habe 
    ich mit Genuß wiedergelesen, dabei bedauert, 
    daß der Forscher den Vater nicht ganz 
    untergekriegt hatte, es ist zartes Relief, wo 
    ist derbe Plastik sein könnte, und an der 
    größeren Hälfte der Leser wird die Lektion 
    ihrer Feinheit wegen verloren gehen. In der 
    Angst, daß der Vater sie ertränken will, 
    schim̄ert übrigens die Symbolik der Wasser-
    träume (Geburtsverkleidung) durch. Die 
    Analogien mit dem Kl. Hans sind bis 
    auf wenige Stellen nicht herausgearbeitet, 
    während der Leser berufsmäßig ein blödes 
    Vieh ist u mit der Nase auf die Dinge 
    gestoßen zu werden, verdient. Ihre Kritiken 
    u Referate athmen eine humoristische

  • S.

    Freiheit, die ich dem Zentralblatt wünschte. Wäre 
    ich dieser an Letzterem Ort sicher, so würde ich 
    der Kritik gerne den Maulkorb abnehmen, 
    den sie dort tragen soll. Von anderen habe ich 
    noch nicht viel gelesen. Abraham ist musterhaft 
    klar u einwandfrei. Wie immer sehr respektabel, 
    Pfister kannte ich aus Korrekturen. Die schweren 
    Schweizer habe ich mir noch aufgespart.

    Also viel Dank u Glück auf zum nächsten Band. 
    Ich bemerke hier, um allen Mißverständnißen 
    vorzubeugen, dass ich nie beabsichtig, Ihrer 
    Entscheidung vorzugreifen, wenn ich Ihnen 
    einen Aufsatz fürs Jahrbuch zusenden lasse. 
    Wenn Sie die kl. Arbeit von Rosenstein eher 
    für das Zentralbl passend der achten, – was nämlich 
    meine Ansicht ist – oder den Artikel von Silberer 
    nicht goutiren, so halten Sie sich durch meine 
    Empfehlung nicht gebunden. Ich habe niemals 
    definitive Zusagen in Ihrem Namen gegeben. Die 
    Egmont analyse u den Traum von Rank werden 
    Sie wahrscheinlich selbst als gute Akquisition 
    anerkennen. Von mir aus steht außer dem Liebes-
    leben fürs nächste Heft noch der besprochene 
    Aufsatz allgem. Inhalts über die zwei Prinzipien 
    des ψ Geschehens zu erwarten.

    Meine Reise mit Ferenczi hat ihr Ansehen etwas
    verändert. Wegen unbequeme Unterbringung
    u ungünstigen Termins habe ich auf die Seefahrt
    von Antwerp aus verzichtet. Wir werden
    wahrscheinlich zu Lande gehen und so mehr Zeit

  • S.

    für Sizilien gewinnen, auch
    einen Tag in der ewigen
    Stadt rasten. 

    Ich erwarte F. in 8 oder 10 Tagen
    hier.

    Wenn Sie sich für mein persön-
    liches Befinden interessiren,
    ich bin sehr wol u noch sehr
    unfähig zu geistige Arbeit. 
    nicht im Stande, einen Gedanken
    zu fassen. Körperliches Wolsein
    u geistige Thätigkeit gehen
    bei mir übrigens immer
    auseinander.

    Dienstag bin ich bei Debruyne
    in Leiden eingeladen u
    soll die Bekanntschaft eines 
    sehr geschätzten Kollegen van
    Emden machen, der sich für die Ψ
    interessiren will. 

  • S.

    Mit herzlichem Gruß u vielen
    guten Wünschen für ihr
    Haus 
    Ihr treu ergebener
    Freud

     

    [Blatt ist beschnitten]