-
S.
31. Dez 11
Lieber Freund
Ich will Ihnen noch in diesem Jahr schreiben
da ich nicht im̄er ab warten kann, bis Sie
einmal antworten, u lieber schreibe, wann
ich bei Zeit u Stimmung bin.Als Sylvestergruß ist Ihr Schriftchen
aus Raschers Jahrbuch eingelaufen, ein unge-
bärdiges, kraftvolles Ding, das sich hoffent-
lich bei den Lesern Bahn brechen wird. Aber
wer ist Rascher? Ein Verleger? Aber sein
Jahrbuch? Ist es etwas im Stil der alten
Kalender mit Aufsätzen zur Erbauung
u Anregung für ein neues Jahr, von
dem man doch nichts weiß?Dies Jahr, dessen letzte Wochen mir übrigens
allerlei Quälereien ge bracht haben, war,
wenn ich’s so überlege, im Ganzen nicht
hervorragend gut für unsere Sache. Der
Kongreß in Weimar war schön u die
Tage vorher in Zürich; inKa¿Klobenstein
hatte ich eine kurze, sehr inhaltsreiche
Periode von Produktivität. Das Andere
war eher alles minder. Doch muß es gewiß
auch solche Zeiten geben.Gleichzeitig erhalten Sie einen ersten
wahrscheinlich enttäuschend dürftigen
Brocken Technik Der nächste wird -
S.
nicht besser sein, nur un klarer. Es gerät nie,
wenn ich über Aufforderung ohne innere Nötigung
schreibe, wie es bei diesen Aufsätzen war.Mein zweiter Beitrag zum Liebesleben
ist fertig u wird Ihnen zugehen, wenn ich
Ihre Antwort über die Audition colorée
habe, d. h: mit dieser oder allein. Er klingt
pessimistisch aus, u da ich an trüben Tagen
geschrieben habe u meiner Objektivität
nicht sicher bin, habe ich noch einen ab-
schwächenden Schluß darangeflickt.
Die Arbeit, seit einem Jahr fertig ist doch
noch nicht ganz gereift gewesen.Die Hirschfeld hat mir von Ihnen u Pfister
allerlei erzält, wenn man dies Andeuteln
Erzälen heißen kann, woraus ich schließe
daß Sie beide noch nicht die nötige Kühle
in der Praxis erworben haben, sich noch
einsetzen u von der eigenen Person vieles
hergeben, um dafür Entgegnung zu ver-
langen. Darf ich, würdiger alter Meister,
mahnen, daß man sich bei dieser Technik
regelmäßig verrechnet, daß man eher
unzugänglich bleibensollund auf dem
Empfangen bestehen soll? Lassen wir uns
nie von den armen Neurotikern ver-
rückt machen. Der Aufsatz über die „Gegen-
übertragung“ der mir notwendig scheint,
dürfte allerdings nicht gedruckt werden,
sondern müßte unter uns in Abschriften -
S.
zirkuliren.
Wenn bei Ihnen wirklich eine
Verstim̄ung gegen mich besteht,
so braucht die H nicht die Ver-
anlassung zu sein, um sich
darüber zu äußern. Ich bitte
Sie also, wenn sie von Ihnen
verlangt, Sie sollten mir über
jene Konversation mit ihr
berichten, so lassen Sie sich
nicht von ihr beeinflußen
oder beauftragen, sondern
warten ruhig meine nächste
Untat ab, um dann mit mir
abzurechnen. Die letzte Aus-
einandersetzung dieser Art
hatte ich mit Ferenczi, der
mich verschloßen u unzugäng-
lich fand u sich über meine
Unzärtlichkeit bitter beklagte, -
S.
zirkuliren.
seitdem aber sein Unrecht u
meine Verständigkeit voll
zugegeben hat. Ich stelle nicht
in Abrede, daß ich gerne
Recht behalte. Es ist das im
Ganzen ein trauriges
Vorrecht, da es vom
Alter verliehen wird. Bei
Euch Jungen scheint es sich
um ein Unverständnis
in der Behandlung des
Vaterkomplexes zu handeln.Und nun meine herzlichsten
Wünsche für das Jahr
1912, dem Haus am See
und allen Einwohnern
von Ihrem getreuen
FreudIhr Schriftchen aus Raschers Jahrbuch] Jung, C. G (1912): Neue Bahnen der Psychologie. In: Falke, Konrad (Hg.) (1912): Raschers Jahrbuch für Schweizer Art und Kunst. Band 3. Zürich: Rascher.
Dieser Text ist die Urfassung von Jung, C. G (1917): Die Psychologie der unbewußten Prozesse. Zürich: Rascher.
Jung wird später bis zur Auflösung des 1901 von Max Rascher (1883 bis 1962) gegründeten Verlages, seine Schriften weitgehend dort publizieren, danach wechselte er zum Walter Verlag, Olten.
Berggasse 19
Wien 1090
Austria
1003 Seestraße
Küsnacht 8700
Switzerland
C32F25