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S.
22. I. 1911
Lieber Freund
Ich wollte Ihnen nach den erfrischenden Stunden
in München nicht wieder schreiben, als
bis ich berichten konnte, mein Sohn sei
außer Ge fahr von Komplikationen und
fieberfrei, wie es jetzt der Fall ist. Er hat
sich auf einer Skitour den Oberschenkel ge-
brochen, blieb 5 St unbeweglich auf dem
Schnee liegen, bis er geborgen werden
konnte u hätte gewiß einige Anhängsel
erfroren, wenn ihn ein Kamerad geschützt
hätte. Bis er von seiner Höhe (2000 m)
ins Sa natorium gebracht werden konnte,
vergingen 2½ Tage. Der Unfall ist übrig-
ens gerade so determinirt wie andere
bei Söhnen von nicht ΨAnalytikern.Am selben Tage war Dr.Bjerre aus Stock-
holm bei mir, ein etwas trockener
u wortkarger Mann, der sich endlich
als ernsthafter u gründlicher Denker
erraten ließ. Ich habe ihm geraten
in die Berliner Gruppe einzutreten.Er hatte bereits einen Vortrag in
Helsingförs gehalten und wollte unmittel-
bar nach seiner Rückkehr in Stock-
holm auftreten. In H. interessirten sich
die Hörer hauptsächlich für das „Ab-
reagiren“, als Unterdrückte, wie er
fein bemerkte. -
S.
Ich will gerne mit dem Ausgang der Entrevue
mit Bleuler zufrieden sein, aber vergeßen
Sie nicht, wieviel bereits in Zürich dafür
vorgearbeitet war. Ich werde ihn jetzt von
Zeit zu Zeit mit Briefen „befeuchten“,
um das Niveau nicht absinken zu lassen.Ich habe eine böse Zeit auch gesundheitlich
hinter mir. Die Woltaten des Münchener
Intermezzos giengen bald in Beschäftigungen,
Aufregungen, Besuchen udgl. unter, so daß
ich nicht einmal den kurzen Aufsatz über
die zwei Prinzipien revidiren konnte.
Heute fühle ich mich wieder normal zum
ersten Male in diesem neuen Jahre u
will die aufgeschobene Arbeit noch im
Januar, erledigen. Die Erwerbskomplexe
haben natürlich Anlaß gehabt, sich bei
dem Unfall zu stärken. Der hat wie
ein kleiner negativer Haupttreffer
gewirkt.Für die Erledigung der photogr. Sache und
die Zusendung der beiden Bilder Ihrer
lieben Frau schönsten Dank! Jetzt
schulde ich Ihnen 36 frcs; wie unvor-
sichtig also, mir die 40 mk durch die
Bank von Schaffhausen zurück-
zuschicken. Jetzt muß ich wiederum
meine Bank bemühen. Eine Mark
schulde ich noch überdieß. -
S.
Adler geht konsequent weiter u wird bald
ausgelaufen sein. Un längst äußerte er
die Ansicht, auch der Coitus entspringe
nicht ausschließlich sexuellen Motiven,
sondern diene der Absicht des Individuums,
sich männlich vorzukom̄en. Es ist eine
nette kleine Paranoia. Daß bei der
ganzen Theorie das eigentliche schwere
Leiden der Neurotiker, ihre Unglücks‑
und Konfliktempfindungen, um seine Er-
klärung kom̄t, ist ihm noch nicht einge-
fallen. Er hat (seit München) einmal im
Verein ein Stück seines Systems ver-
teidigt, wurde von vielen Seiten ange-
griffen, von mir nicht. Seitdem ich ihn
ganz verstehe, bin ich Herr meines
Affekts geworden u werde ihn sanft
und aufschiebend be handeln, allerdings
ohne Aussicht auf Erfolg. – Die Beilage
enthält einen Artikel von Stekel, den
mein Veto aus dem Zentralblatt gestrichen
hat. Seien Sie vorsichtig im Weitergeben;
er ist zu kompromittirend.Für die Wissenschaft habe ich in diesen
Wochen also nichts leisten können,
obwol idi sonderbarer Weise an
einigen meiner Fälle so gut analytisch
gearbeitet habe wie sonst nie. Es -
S.
gab da einige überraschend schöne Einsichten,
die aus Diskretion verloren gegeben
werden müßen, aber einen Niederschlag
von Überzeugung zurücklaßen dürfen.Eine kleine Schrift über den Mithrakult
von Kluge (Der alte Orient 12. Heft 3)
ist mir gestern zugekom̄en. Ich weiß
nicht, warum Sie meine Kritik in Mytho-
logicis so sehr fürchten. Ich werde mich
sehr freuen, wenn Sie dort die Fahne
der Libido und der Verdrängg auf-
pflanzen u dann als siegreicher Eroberer
in unser medizin. Mutterland zurück-
kehren. Die endopsych. Wahrnehmung
– Silberers funktionales Phänomen – ist
offenbar berufen, noch manches Rätsel
aufzulösen.Wenn Sie Urgroßväterchen nächstens
wieder sprechen, sagen Sie ihm doch, daß
ich mich längst für das Geheimnis seiner Mignon
interessire, u daß er ein ver-
fluchter Kerl im Verstecken ist.Ihr getreuer
FreudWas er tat; siehe Korrespondenzblatt, Nr. 6 (August 19n), S. 1.
' Ehemaliger (schwedischer) Name von Helsinki; Finnland war von 1809 bis. 1917 ein Großherzogtum in Personalunion mit dem Zaren.
Bjerre] Vortrag in der Gesellschaft der Schwedischen Ärzte in Stockholm am 17.1.19xx: Die psychoanalytische Methode.
Kluge] Theodor Kluge (1911): Der Mithrakult; Seine Anfänge, Entwicklungsgeschichte und seine Denkmäler. In: Der Alte Orient. Bd. XII, 3, Leipzig: Hinrich’sche Buchhandlung, 1911.
Silberer] > Personenregister
Veröffentlichungen (Auswahl)
Silberer, Herbert (1903): Viertausend Kilometer im Ballon. Mit 28 photographischen Aufnahmen vom Ballon aus. Otto Spamer, Leipzig 1903.
Silberer, Herbert (1909): Bericht über eine Methode, gewisse symbolische Halluzinations-Erscheinungen hervorzurufen und zu beobachten. Jb. 1, 513–525.
Silberer, Herbert (1910): Phantasie und Mythos. (Vornehmlich vom Gesichtspunkte der „funktionalen Kategorie„“ aus betrachtet.) Jb, 2, 541–622.
Silberer, Herbert (1911a): Symbolik des Erwachens und Schwellensymbolik überhaupt. Jb. 3, 621–660.
Silberer, Herbert (1911b): Über die Symbolbildung. Jb. 3, 661–723.
Silberer, Herbert (1911c) Über die Behandlung einer Psychose bei Justinus Kerner. Jb. 3, 724–729.
Silberer, Herbert (1911d) Vorläufer Freud’scher Gedanken. Zentralblatt für Psychoanalyse und Psychotherapie 1, 441–449.
Silberer, Herbert (1912a): Spermatozoenträume. Jb. 4, 141–161.
Silberer, Herbert (1912b): Zur Symbolbildung. Jb. 4, 607–683.
Silberer, Herbert (1912c): Zur Frage der Spermatozoenträume. Jb. 4, 708–740.
Silberer, Herbert (1912e): Mantik und Psychoanalyse. Zentralblatt für Psychoanalyse und Psychotherapie 2, 78–83.
Silberer, Herbert (1912f): Von den Kategorien der Symbolik. Zentralblatt für Psychoanalyse und Psychotherapie 2, 177–189.
Silberer, Herbert (1912 g): Lekanomantische Versuche. Zentralblatt für Psychoanalyse und Psychotherapie 2, 383–401; 438–540; 518–530; 566–587.
Silberer, Herbert (1912 h): Märchensymbolik. Imago 1, 176–187.
Silberer, Herbert (1914a): Probleme der Mystik und ihrer Symbolik. Wien: Heller, 1914.
Silberer, Herbert (1914b): Mystik und Okkultismus. Jb. 6, 413–424.
Silberer, Herbert (1914c): Der Homunculus. Imago 3, 37–79.
Silberer, Herbert (1914d): Das Zerstückelungsmotiv im Mythos. Imago 3, 502–523.
Silberer, Herbert (1915 a): Durch Tod zum Leben. Eine kurze Untersuchung über die entwicklungsgeschichtliche Bedeutung des Symbols der Wiedergeburt in seinen Urformen, mit bes. Berücksichtigung der modernen Theosophie. Heims, Leipzig.
Silberer, Herbert (1919): Der Traum. Einführung in die Traumpsychologie. Stuttgart (Enke).
Silberer, Herbert (1919): Zur Entstehung der Symbole. Vortrag, 20. Nov. 1919 in der Großloge Wien.
Silberer, Herbert (1920a): The origin and the meaning of the symbols of freemansonry. Psyche & Eros, S. 17–24, 84–97.
Silberer, Herbert (1920b): The Steinach in mythologie. Psyche & Eros, 137–139.
Silberer, Herbert (1921a): Der Seelenspiegel. Das enoptrische Moment im Okkultismus. Pfullingen: Baum.
Silberer, Herbert (1921b): Der Zufall und die Koboldstreiche des Unbewußten. Bern, Leipzig: Bircher.
Silberer, Herbert (1921d): Beyond psychoanalysis. (Reflection on Sigmund Freud’s Jenseits des Lustprinzips. (1920): Psyche & Eros, 142–151.
Silberer, Herbert (1923a): Der Aberglaube. Bern: Bircher.