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PROF. DR. FREUD WIEN, IX. BERGGASSE 19.
25 Nov 10.
Lieber Freund
Anbei der Brief Bleulers. Er bestätigt
zunächst den Bankerott aller rationalen
Lösungsversuche, scheint uns aber noch etwas
anderes zu versichern, daß er uns und die
Sache nicht verlaßen will. Wir müßen also
froh sein, ihn zu halten. Nun werden Sie ihn
bei den letzten Zusamm̄enkünften genug
studirt haben, um entscheiden zu können, was
man thun soll. Ginge es so, daß man im Z. Verein
Luft macht, die anderen unerbittlich heraus-
wirft, ihm eine Ausnahmsstellung als altem
Herrn einräumt, u ihn zu den wissenschaftl. Sit-
zungen, obwol nicht ohne jede Ausnahme, ein-
lädt. Auf seine Teilnahme am Kongreß müßte
man dann doch verzichten. Er würde sich dann
bald im Burghölzli vereinsamt fühlen
u den anderen den Rat geben müßen, in
den Verein einzutreten. Wäre das so durch-
führbar?Was meine Reise betriffi, so genieße ich hier
die Strafe für innere Unaufrichtigkeit.
Ich wollte natürlich meinen Privatgewinn
von der diplomatischen Unternehmung
haben, einen Tag mit Ihnen sein, Ihr Haus
u Ihre Kinder kennen lernen. Nun ver-
langt er, daß ich bei ihm absteige. Dann habe
ich gar nichts von den Ihrigen; meine Zeit ist
ja sehr beengt mit Rücksicht auf die Kostspieligkeit -
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des Arbeitstages u das große Bedürfnis
täglich Geld zu erwerben für alle möglichen
Notwendigkeiten u Verpflichtungen. Der
Absage an sein Haus getraue ich mich aber nicht; sie würde
wahrscheinlich die Wirkung der Reise völlig
aufheben; die ganze Veranstaltung scheint
mir ja nur die Rache für jene Situation,
als ich bei Ihnen über ihm wohnte und ihn
nicht besuchte. Das hätt ich wirklich nicht thun,
Ihnen nicht nachgeben sollen. Jetzt geschieht
es mir recht.Wenn ich seinen ersten Vorschlag aufgreife
u ihn irgendwo auf halbem Weg treffe, sehe
ich von Ihnen darum gerade nicht mehr.
Auch ist ein ganzer Tag mit ihm allein
etwas recht Ermüdendes; auf die Idee Sie
mitzunehmen, kom̄t er vielleicht nicht. Käme
es doch dazu, so würde ich München anstatt
Innsbruck vorschlagen, das mir von anderen
Erlebnißen her in scheußlicher Erinnerung
ist. Vielleicht hält ihn die Rücksicht auf Kraepelin
von München ab.Kurz, ich bin noch recht unentschloßen. Ich
bitte Sie um schleunige Rücksendung des
Bl.‑Briefes, damit ich ihm eine vorläufige
Antwort geben kann, aber auch um eine
Äußerung von Ihnen, damit ich mich definitiv
mit ihm zu stellen weiß. –Der Schreber würde gut vorwärts gehen, wenn
ich nur Zeit für ihn hätte. Sonntag nach-
mittag ist eigentlich alles, u der kommt in -
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jeder Woche nur einmal.
Die Stimmung wird mir durch die Ärgerniße
mit Adler und Stekel weggenom̄en, mit denen
schwer auszukommen ist. Stekel kennen
Sie, er hat eine manische Zeit u bringt
alle feineren Regungen in mir zur Ver-
zweiflung; ich bin es fast müde, ihn gegen
die ganze Welt zu vertheidigen. Zuletzt
hat sich auch im Verein eine starke Opposition
gegen ihn geregt. Adler, ein sehr anständiger
u geistig hochstehender Mensch, ist dafür
paranoisch, drängt seine kaum verständlichen
Theorien im Zentralblatt so vor, daß
sie alle Leser in Verwirrung bringen
müßen. Streitet beständig um seine Priorität,
belegt alles mit neuen Namen, beklagt sich,
daß er in meinem Schatten verschwindet
u drängt mich in die unliebsame Rolle
des alternden Despoten, der die Jugend
nicht aufkommen läßt. Ich wäre froh, wenn
ich sie beide los wäre, da sie mich auch
persönlich schlecht behandeln. Aber es
wird nicht gelingen. Ich würfe das Zentrbl
gerne mit hin, u wir könnten das
Jahrbuch ausdehnen, um dem Andrang
der Mittheilungen zu genügen. Sie
werden aber keinen Bruch wollen, ohne
sich dabei ändern zu können. Dabei der
lächerliche Wiener Lokalstolz u die Eifer-
sucht auf Sie und Zürich! Es sind -
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wirklich Menschen, an denen die ΨΑ nichts geändert
hat. Die anderen in Wien sind sehr brav,
aber nicht gerade sehr tüchtig.Dieser Jammer mag Sie in Ihren lokalen Schwier-
igkeiten trösten.Das Zentralbl scheint übrigens viel Interesse
zu finden, es war doch eine Notwendigkeit.Über unseren Freund Friedländer habe
ich endlich erfahren, daß er wegen unehren-
hafter Praktiken beim Kartenspiel während
des Militärdienstes degradirt wurde. Deshalb
hat er Wien verlassen. Er hat jetzt eine
Arbeit bei Morton Prince, die eine ganz
gemeine Denunziation bei der Amerikan.
Prüderie zu sein scheint. Stellt sich das
wirklich so heraus, so laße ich im Referat
im Zentralbl die Verwunderung darüber
aussprechen, daß „gerade er die Denunziation
unter die Mittel der wissensch. Polemik
aufnehmen will“. Endlich hätte er’s erreicht,
daß man von ihm Notiz nim̄t.Ich grüße Sie mit Frau und Kindern herzlich. Bei uns geht nach dem Tod der Großmutter (in Hamburg6) alles wieder glatt.
Ihr getreuer
Freud