• S.

    PROF. DR. FREUD.  WIEN, IX. BERGGASSE 19.

    24.3.12

    Lieber Freund

    Allen Vorsätzen entgegen muß ich Ihnen 
    also wieder schreiben.

    Ich gratulire Ihnen zur Amerikareise 
    u finde es selbstverständlich, daß Sie ange-
    nom̄en haben. Ich habe Ihnen aber telegraphirt, 
    weil ich Ihnen, ehe Sie sich an die Orts-
    gruppen wenden, meine Bedenken gegen 
    die Abhaltung des Kongreßes am 19/20 
    Aug. vorlegen möchte. Diese sind allgemeiner 
    u persönlicher Natur, manche Mo­mente 
    wol gleichzeitig beides.

    Um aufsteigend mit den persönlichen zu 
    beginnen: mir zerreißt der Termin die 
    sehnsüchtig erwarteten u ehrlich verdienten 
    Ferien. Ich bin bis etwa 10 Aug. mit meiner 
    Frau in Karlsbad, müßte dann 8 Tage 
    später wieder abreisen, weiß noch 
    nicht von wo. Ein Augustauf­enthalt 
    in München ist voraussichtlich eine 
    Schinderei, u die Hitze für konzentrirte 
    geistige Arbeit höchst ungeeignet. Für 
    andere Kon­greßtheilnehmer wird, auch 
    wenn sie nicht von Karlsbad kommen, 
    ähn­liches gelten, die Unterbrechung der 
    Ferien, die Erschwerungen der Som̄ertemperatur 

  • S.

    gewiß.

    Überdieß habe ich den Eindruck, daß ein Be-
    dürfnis nach dem Kongreß noch nicht besteht. 
    Es ist zu wenig seit dem letzten vorgefallen 
    Der Eindruck unserer Zusam̄enkünfte war bisher 
    ein so köstlicher, daß wir ihn nicht aufs 
    Spiel setzen wollen.

    Ich meine Ihre Amerikareise gäbe das beste 
    Motiv für die Übergehung des Kongreßes; 
    jedermann wird zugeben, daß sie dem Interesse 
    der ΨΑ dient.

    Diese Erwägungen, von denen ein Teil auch 
    den letzten vielleicht mög­lichen Termin, die letzten 
    Sept.tage nach Ihrer Rückkehr, trifft, lege 
    ich Ihnen zur Würdigung vor. Die Arbeit 
    von Frau Lou A. S. bin ich zu lesen bereit. 
    Binswanger stim̄t leider mit meinen 
    eigenen Eindrücken – Der Redezwang 
    im Wiener Verein ist zwar längst aufgehoben, 
    aber er hat die Wirkung hinterlassen, 
    daß die mei­sten sich bereitwillig zum 
    Worte melden u so die anderen mitreißen, 
    zur Schulung ist er wirklich sehr zu empfehlen.

    Ich schicke Ihnen heute die 2te Auflage 
    der Gradiva und grüße Sie herzlich 
    Ihr getreuer 
    Freud

    Frau Lou A. S.] Lou Andreas­ Salome