Prof. Dr. Freud
IX., Berggasse 19.
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S.
6.6.07
Lieber Herr Kollege
Ich bin sehr überrascht, daß ich der
Reiche sein soll, von dessen Tisch
etwas für Sie abfällt. Diese Äußerung
muß sich wol Dinge beziehen, die
dann im weiteren nicht vorkom̄en.
Wär’ ichs aber nur! Ich komme mir
gerade bei Ihren Bemühungen
um die Dem pr recht armselig
vor. Sie finden auf dem beigelegten
Blatt die Er gebniße der Anstreng-
ungen, zu denen Sie mich auffordern.
Da ich den Eindruck der Fälle nicht
habe, sind sie recht unbefriedigend;
ich nehme diese Schreiberei nur als
Gelegenheit um einiges zu wieder-
holen, was ich das erste mal, wie
Sie schreiben, zu unklar ausge-
drückt habe. -
S.
Ein Bilderbuch, wie Sie es entwerfen,
wäre höchst instruktiv. Es ließe vor
allem die Architektonik der Fälle
übersehen. Ich habe dergl widerholtmiversucht wollte aber im̄er
zuviel, wollte die Garantie
des vollkom̄enen Durchschauens,
wollte alle Complicationen darstellen
u blieb so jedesmal stecken. Wollen
Sie aber nicht Ernst machen mit
einer solchen Absicht? Trauen
Sie sich schon, den Kampf um die
Anerkennung unserer Neuheiten
ernsthaft aufzunehmen? Dann
wäre das nächstliegende, eine
Zeitschrift zu begründen, etwa
„für Psychopathologie u Psychoanalyse“
oder frecher, nur „Psychoanalyse.
Der Verleger dürfte sich finden,
Redakteur können nur Sie sein, -
S.
Bleuler wird es hoffentlich nicht abschlagen,
neben mir als Herausgeber zu fungiren.
Andere Mitarbeiter haben wir ja
noch nicht. Aber so was wirbt.
An Material werden wir keinen
Mangel haben, nichts wird uns mehr
Mühe machen als das Wählen, Kürzen und
Abweisen der Beiträge. Mit unseren
eigenen Analysen (von uns beiden)
füllen wir leicht im Jahr mehr als
einen Band. Und wenn das Sprich-
wort recht hat: Wer schimpft der
kauft, dann wird der Verleger
ein gutes Geschäft machen.Lockt es Sie nicht? überlegen Sie doch!
————
Ich habe jetzt mehr freie Zeit u kann
darum aus dem Strom, der täglich an
mir vorüberrauscht, manches heraus-
fischen. Ich notire wieder meine Analysen
Eben war eine meiner Pat. in der Ordination -
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die mir jetzt schon den Kopf wirbeln macht,
so daß mir gar nichts mehr einfällt.
Ihr Hauptsy ist, daß sie eine Schale Thee
nicht halten kann, wenn jemand
dabei ist, natürlich nur eine reinste
Zuspitzung der bedeutsamsten Hem̄-
niße. Sie hat heute früh sehr schlecht
gearbeitet. „Kaum daß ich im Vorzimmer
war, sagt sie jetzt, »hatte ich alles bei-
sam̄en. Natürlich, wenn jemand eine
angeborene Feigheit hat! Übrigens
ist ja lâchele und Schale Thee nicht so
weit auseinander“. Sie pflegt im̄er
die Worte zu verkehren. Ihre Kinder-
geschichte spielt zwischen ihrer Mutter
u ihrer Amme, die lange bei ihr
geblieben ist. Die Mutter heißt:
Emma; kehren Sie um: Amme.Da soll doch der Teufel die
faselnden Kritiker holen! Suggestion
etc.!Ihr herzlich ergebener
DrFreudlâchele: französisch; weibliche From von Feigling
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[Beilage zum Brief von Sigmund Freud an C. G. Jung vom 6.6.1907.
Diese Beilage wird in dieser Edition auch als Manuskript unter der Signatur 1907-102/1907 geführt.1
[Ich soll also über Ihre beiden Fälle phatasiren]
Ich soll also über Ihre beiden Fälle phantasiren. Die Notizen brauche
ich wol nicht abzuschreibensie liegen Ihnen gewiß vor.SDer erste ist der leichtere: Er beginnt mit 9 J, natürlich liegen
die wesentl. Determinirgen dahinter, jede Hy meine ich
knüpft an die Sexualität der Jahre 3‑5 an. Aber das läßt
sich ohne sehr lange Analyse nicht beweisen. Ihre Anamnese
bringt sozusagen nur das historische Material; zum prae-
historischen würden die erhaltenen Kindererin̄ergen führen.
Bei Dem. p. wird man sich wahrsch. oft mit dem historischen
begnügen müssen.Dann läuft alles klar weiter, die Liebe zum Bruder beherrscht sie
unverdrängt, aber aus ubw Quellen. Unter zunhemenden
Conflicten allmälige Verdrängg, Schuldgefühl als Reaktion.
Sehr schön ihr Benehmen während Verlobg des Bruders, Vergleich
mit Braut. Keine Conversionssymptome nur Conflictstim̄gen.
Bei der Annäherung der Realität durch den Heiratsantrag
des Herrn, den sie an den Bruder anreiht, offenbart sich
die Verdrängg, sie erkrankt. Die wahrsch. fortgesetzte Masturb.
hat wol die hyster. Gestaltung des Bildes verhindert, denn
eine ordent Hy hätte längst aufgehört zu masturb u dafür
Ersatzsympt bekom̄en. Ihre Demenzdiagnose ist dann ganz
richtig, durch die Wahnidee bestätigt. Es scheint, sie bringt es dann
zu einer Ablösung der Libido vom Bruder, Ersatz durch
Indifferenz. Die Euphorie theoretisch etwa als Stärkg des Ich
durch die eingezogene Objectbesetzung. Also ein nur partieller
Fall, wol nicht abgeschloßen, kaum vollkom̄en durchschaut.II Der Paranoide
Er setzt mit homosex Erfahrgen an. Das Mädchen mit dem Bubenkopf
vermittelt die Rückleitg der Libido zum Weib.In London Conflictzustand, verträgt den Zusam̄enbruch
seiner Hoffnungen nicht, erschießt sich angesichts der verzweifelten
Lage (Symbol N.13) nach mehrfachen Versuchen sich das, was ihm
fehlt, illusorisch zu beschaffen. Hallucinatorisch gelingt es
ihm nicht. Die Wunscherfüllg dieses Prozesses ist eben nicht
hallucinatorisch, keine Regression von den Phvorstellgen
auf die Wahrnehmungen, aber eine Beeinflußg der
Wahrnehmgen, respektive genauer der Erin̄ergsbilder frischer
Wahrnehmgen im Sinne der Wunschphantasien. Die Art der
Wunscherfüllungen können wir von den Wahnideen gut absondern.
Doch haben sie schon einen besonderen Charakter, welcher
der Paranoia eigen ist, den die Theorie durch Lokalisation
erklären würde. Im Kampf zwischen Realität und Wunsch-
phantasie erweisen sich die letzteren als die stärkeren
weil sie ubw Wurzeln haben. Verdrängg kommt hier nicht in -
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Betracht, wol aber Ueberwältigung. Dh: Es liegt der Prozess der
Psychose vor, nicht das Ubw ist verdrängt worden, sondern das
Ubw hat das mit der Realität zusam̄enhängende Ich über-
wältigt. Wenigstens zeitweise hier der Suicid zeigt, daß
es kein dauernder Erfolg war, es ist eine Handlung des
normalen Ich zur Abwehr gegen die Psychose.Zwischen dieser Londoner Zeit u der definitiven Erkrankg liegt
eine Zeit der Gesundheit, also der geglückten Verdrängg.
Nun da die Libido wiederkom̄t mit der Nachricht der Verlobg
erfolgt die Erkrankg in typischer paranoischer Form mit Projektion.
Das Schlußresultat, dass Lydia in allem steckt u alles macht
heißt ja soviel, als daß diese Objektliebe ganz von ihm Besitz
ergriffen hat. Aber nach der Form dieser Aeußerg ist eseine Libido,
die etwas Verdrängtes wider besetzthat. Die Vergrängg ist inist
der Genesg. erfolgt u bestand – was sich aus dem Fall nicht
erweisen läßt – in Projektion nach außen, aber nicht als starke
Vorstellg wie beim Wunschdelir, sondern als schwache, was
nur durch die Ablösg der Libido möglich gewesen sein kann.
Die wiederkehrende Libido fand ihr Objekt als äusserliches, projiciertes
vor. Daß bei der dazwischen liegenden Verdrängg die Libido
in den Autoerotism gegangen ist, erschließe ich aus den reinen
Demenzfällen, dieser paranoide Fall zeigt nichts darüber.
Die Paranoia zeigt überhaupt nur die Widerkehr der Libido.
Die Ablösung (Verdrängg) wird sichtbar in Ihren Demenzbeobachtungen.Das ψ Problem (nicht das klinische) ist das des Mechanismus der
Projektion in die Wahrnehmgswelt, die nicht mit der einfachen
Wunschregression identisch sein kann.Sehr interessant u hoffentlich bald an anderen Fällen zu studiren
ist das Verhältniß der späteren Paranoia (mit Projektion)
zu einer ursprünglichen Überwältiggspsychose. Zuerst ist
die Realität durch die starke Wuschphantasie überwältigt
worden, aber so dass nur die Erin̄ergen gefälscht, nicht die Wünsche
hallucinirt wurden. Dann tritt als Reaktion die Verdrängg der
Wunschphantasien ein, die vielleicht wegen dieses Vorstadiums
von der später wiederkehrenden Libido so nahe dem Wahrnehmgs-
ende angetroffen werden. Es scheint beim paran. Prozeß die
Regression nicht wirklich bis zu dem System Wahrnehmg
sondern nur bis zum nächsten: Erin̄ergsbilder zu gehen
Bei weiteren Analysen wird sich der Unterschied vom
hyst‑conversionstypus hoffentlich klarer zeigen lassen.Ich kann nicht mehr geben, bin aber sehr
bereit, mehr zu empfangen.Auf beiden Seiten eines großen Bogens (25 x 40 cm); der Brief selbst auf dem kleinen Briefpapier.
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