• S.

    PROF. DR. FREUD
    WIEN IX., BERGGASSE 19

    23.5.1924

    Lieber Herr Doktor

    Ihr erster Brief angekom̄en. Sehr erfreut, 
    daß Sie nicht seekrank waren; dann ist die 
    Fahrt über den schmutzigen Ozean ein 
    schönes Vergnügen. Und sehr amüsiert über 
    die volle Identität Ihrer Eindrücke mit 
    meinen 15 Jahre vorher. Nirgends wird 
    man von der Sinnlosigkeit des menschlichen 
    Treibens so überwältigt wie dort, wo 
    auch die lustvolle Befriedigung der natür-
    lichen animalischen Bedürfnisse nicht mehr 
    als Lebensziel anerkannt wird. Es ist eine 
    verrückte anale Adlerei.

    Ich bin auch sehr froh, daß Sie die einzig ver-
    nünftige Art des Benehmens gefunden 
    haben, die dem Aufenthalt unter 
    diesen Wilden entspricht: sein Leben 
    möglichst theuer zu verkaufen.

    Nett, daß Sie fast alle meine Analysanden 
    wieder bekom̄en haben, an deren Ana-
    lyse ich ohne jede Befriedigg denke. Mir 
    schien oft, zum Amerikaner passe die 
    ΨA so wie zum Raben ein weißes Hemd.

    Was hier in Verein u Verlag vor-
    geht, brauchen Sie ja nicht durch mich 
    zu erfahren. Ich halte mich noch im̄er 
    fern. Sachs hat angeboten nach Wien 
    zu kom̄en, um bei der Imago zu helfen. 
    Mit Ferenczi habe ich einige Bemerk-
    ungen über Redaktionsangelegenheiten 
    gewechselt. Neu eingelangt ist ein Mnskpt 
    von dem Sophisten Kinkel, ein Kapitel 
    eines bulgarischen mir gewidmeten Buches 
    u eines von Hollos: Analyse eines

    Walter Kinkel
    Geboren 1871 in Wiesbaden
    Gestorben 1937 anderslautend 1938)
    Dr. (Diss. Universität Jena) (1896)
    Prof. Dr. phil.
    Wirkunsorte: Hagen, Gießen
    Professor für Philosophie, Schriftsteller
    GND: 116175362
    Werktitel:
    Geschichte der Philosophie von Sokrates bis Aristoteles
    Verträumte Stunden
    Aus Traum und Wirklichkeit der Seele : Stille Gedanken aus einsamen Stunden
    Beiträge zur Erkenntniskritik
    Lieder eines Wandermüden
    Vom Sein und von der Seele : Gedanken eines Idealisten
    Von Sokrates bis Plato
    Von Thales bis auf die Sophisten
    Die Idealität und Apriorität des Raumes und der Zeit nach Kant
    Schellings Rede : über das Verhältnis der bildenden Künste zur Natur
    Der Frankfurter Dom St. Bartholomäus

  • S.

    Frühgeborenen, noch nicht gelesen; es dürfte 
    für Ihr Geburtstrauma interessant 
    sein.

    Mein Befinden war auf dem Semmering 
    nicht glänzend, hat sich seither langsam 
    gebessert. Wer objektive Anzeichen 
    schätzt, kann sich darauf berufen, daß 
    mein Arzt mich nur alle 3 Wochen 
    sehen will u mir gestattet hat, im Juli 
    August in die Schweiz zu gehen. Ich halte 
    mich an die subjektive Seite, bin 
    recht unzufrieden und skeptisch.

    Sie haben vielleicht gehört, daß ich zu 
    meinem Geburtstag Bürger der Stadt 
    Wien geworden bin. Trotzdem hat 
    sich in dieser Stadt seither nicht viel 
    geändert. Auch die abscheuliche Geschäfts-
    krise und die Sorge um den Aus-
    gang der „Sanirung“ sind unvermindert geblieben.

    Ich hatte den Besuch von Romain Rolland 
    u vorgestern von Alb. Schaeffer, dem 
    Dichter des Josef Montfort. Letzterer 
    eher eine Enttäuschg, sieht aus wie ein 
    Hitler-Knabe, ist wieder weit weg 
    von unserer Analyse.

    Lassen Sie mir alle Eichhörnchen 
    grüßen u füttern Sie sie auch in 
    meinem Namen mit Affennüßen. 
    Der eigentliche, wirklich sehenswerte 
    Tiergarten ist in Bronx.

    Herzlich Ihr
    Freud

    P.S.
    Ich habe wieder einen 
    kl. Aufsatz: Realitäts-
    verlust bei Neurose u Psychos
    geschrieben.

    Alb. Schaeffer
    Josef Montfort