• S.

    R u n d b r i e f

    vom 21. Januar 1927.

    Liebe Freunde!

    Ich bin am 2. Januar wohlbehalten und mit den besten Eindrücken
    von Berlin zurückgekommen, von der ersten Reise seit meiner Operation
    in 1923. Das vorgebliche Incognito sollte nur dazu dienen, mich von den
    Verpflichtungen gegen die Analytiker frei zu halten, und ich habe wirklich
    außer Frau Abraham nur Eitingon und Simmel gesehen. Eine Reise nach
    England unter ähnlichen Einschränkungen wäre undenkbar, auch werde ich
    sie nicht unternehmen, solange mir die ärztliche Technik nicht bessere
    Funktionen verschafft hat.

    Ferenczis Berichte, deren anfängliches Ausbleiben uns alle so betrübt
    hatte, sind nun reichlich eingetroffen und in hohem Grade befriedigend.
    Wir bezweifeln nicht, daß seine Person wie seine Vorträge eine nachhal-
    tige Wirkung äußern werden, soweit das in Amerika möglich ist. Hingegen
    muß ich das Verhalten unserer „Gruppe“ dort gegen ihn streng verurtei-
    len. Eine Differenz in der Frage der Laienanalyse ist noch kein Grund,
    einer Person von solcher Bedeutung sozusagen den Willkomm zu verweigern.
    Ferenczi teilt meinen Standpunkt in der Laienfrage, daß der Akzent von
    der Bedingung des ärztlichen Diploms auf die der zureichenden Ausbildung
    zu verschieben sei. Dagegen vertritt die amerikanische Gruppe den eng-
    herzigen und kurzsichtigen professionellen Standpunkt, der sich darin er-
    schöpft, die Analyse für die Ärzte zu monopolisieren. Die Berufung auf
    besondere Verhältnisse in Amerika scheint ein Vorwand zu sein, sonst
    müßte die Gruppe jenen Personen entgegenkommen, die eine regelrechte
    Ausbildung in Europa durchgemacht haben, da es doch die Gelegenheit dazu
    in Amerika nicht gibt. Wenn die Resultate dieser Ausbildung zumeist keine
    glänzenden sind, so folgt dies aus der minderen Qualität des amerikanischen
    Materials und findet sein Gegenstück in der auch von Jones betonten
     

  • S.

    Inferiorität der amerikanischen ärztlichen Analytiker.

    Pierce Clark, dem ich in der Tat die Autorisation zur Übersetzung
    von „Hemmung, Symptom u. Angst“ – zuerst in seiner neuen Zeitschrift und
    dann als Buch – gegeben habe, gehört immerhin zu den tüchtigeren von den
    Übersetzern. Ich wußte nichts davon, daß er sich von der Gruppe getrennt
    hat. Kein Wunder. Die Amerikaner legen keinen Wert darauf, in Kontakt
    mit mir zu bleiben, seit länger als einem Jahr habe ich – außer Wünschen
    und Weihnachtskarten – keinen Brief von einem Mitglied der Gruppe, auch
    nicht von Brill, erhalten. (Ausgenommen von Trig. Burrow, der aber nie
    etwas Sachliches mitteilt, sondern nur um Sympathie für seine Torheiten
    wirbt.) Es war mir dann eine Überraschung zu hören, daß ich dadurch eine
    Übersetzung in England verhindert habe. Ich bin in der Meinung erhalten
    worden, daß die amerikanischen und die englischen Übersetzungsrechte
    einander nicht tangieren und erbitte mir endgültige Aufklärung darüber
    von Jones, denn ich bemühe mich seit einem Jahr um die Übersetzung der
    „Selbstdarstellung“ in Amerika, an welcher Arbeit mir mehr gelegen ist
    als an der „Hemmung etc.“

    Das Vorstehende ist wesentlich an London gerichtet. Vom Wiener Ver-
    einsleben ist wenig zu berichten. Eine Erkrankung von Dr. Reich, der sich
    im Ambulatorium und Seminar immer besonders eifrig betätigt hat, wird
    sich gewiß recht störend fühlbar machen, die Kündigung unseres bisherigen 
    Lokals in der Pelikangasse gibt zu Sorgen Anlaß, die noch nicht erledigt
    sind. Die Januarversammlung bei mir ist wegen der jetzt sehr zahlreichen –
    wenn auch sehr leichten – grippeartigen Erkrankungen abgesagt
    worden. Der Vorschlag von Stuttgart für den nächsten Kongreß findet keine
    bereitwillige Aufnahme; ich glaube mit Unrecht, man sollte den Vorteil,
    daß ein so verläßliches Mitglied wie Meng die Vorbereitung übernehmen
    kann, nicht unterschätzen. Ein zweiter der Assistenten der Klinik Wagner,
    Dr. Hartmann, hat die Mitgliedschaft bei uns erworben und in einem wackeren
     

  • S.

    Büchlein „Die Grundlagen der Psychoanalyse“ unsere Sache gegen die bloß
    spekulierenden Psychologen verfochten. – Annas Büchlein über Technik
    der Kinderanalyse dürfte nebst anderen Produktionen des Verlags im
    Februar erscheinen.

    Als Nachtrag zu den Americanis erwähne ich noch, daß Adler von
    einer angesehenen Zeitschrift, der New Republic, als der große Mann begrüßt
    wird, der incognito den Boden Amerikas betreten hat. Er wird der Ent-
    decker des größten Komplexes (Minderwertigkeit) genannt und mit cha-
    rakteristischer amerikanischer Exaktheit wird von ihm berichtet, daß er
    bis vor 2 (!) Jahren mit Freud und Jung gewirkt hat und daß diese beiden
    von ihm ebensoviel gelernt haben wie er von ihnen. Hoffentlich erlebt
    er dort seinen „Boom“, wenn nicht auch ihm die Zulassung von Laien
    zur Therapie in den Weg tritt.

    Mit herzlichen Grüßen allerseits

    Freud  
    Anna Freud