• S.

    Budapest, 15. März, 1925 

    Liebe Freunde:

    Das für mich wichtigste Ereignis der letzten Wochen war mein Besuch beim Herrn Professor und die Aussprache mit Rank. Ich sah dieser Begegnung mit großem Unbehagen entgegen, war aber angenehm enttäuscht durch die große Veränderung, die ich an ihm feststellen konnte. In persönlicher Hinsicht ist das Auffälligste, daß von der Verschlossenheit und offenbaren Unaufrichtigkeit, die wir ihm bei der letzten großen Unterredung in November vorwerfen mußten, keine Spur übrigblieb. Er hat volle Einsicht ins Pathologische seines damaligen Verhaltens wie auch seines Auftretens beim ersten Besuch in Amerika, das er durch den zweiten nach Kräften gutzumachen suchte. Er äußerte die Hoffnung, daß es ihm gelingen wird, gleichwie das von seinem Vaterkomplex getrübte Verhältnis zum Professor, auch das zu den früheren Komiteemitgliedern herzustellen; den Anfang machte er mit mir — er scheint aber großen Wert darauf zu legen, möglichst bald auch mit Berlin und London in persönlichen Kontakt zu treten. In wissenschaftlicher Hinsicht scheint er am Grundgedanken seiner These (Trauma der Geburt) festzuhalten, sieht aber die methodischen Fehler seiner Arbeit ein und sieht der zu veröffentlichenden Kritik mit der guten Absicht entgegen, sich belehren zu lassen. Seine technischen Modifikationen versuchte er theoretisch zu rechtfertigen, er scheint aber ihre Übertriebenheit eingesehen zu haben. Allerdings führt er einen Teil der Gerüchte über seine Technik auf Mißverstehen seiner Aussagen zurück.

         Soeben erhielt ich die kritische Arbeit von Sachs über das »Trauma der Geburt«,[1] der ich nur weniges zuzufügen hätte. Diese Einzelheiten schrieb ich direkt an Freund Hanns.

         Es dürfte Euch interessieren, daß wir in Wien mit Professor und Frl. Anna eine Reihe von ziemlich gelungenen Gedankenübertragungsexperimenten machten.[2]

         Das Vereinsleben hier ist ziemlich animiert. Wir nahmen unlängst ein neues Mitglied auf. Dr. Alexander Loránd aus Kaschau, der seit einem Jahre hier arbeitet und sich mit einem Vortrag über das Thema »Geburt in der Hypnose« vorstellte. (Analyse einer Patientin, die er früher in hypnotischer Anästhesie gebären ließ.)[3]

         In April und Mai halten wir einen Privatkurs für Ärzte und Mediziner.[4]

         4 - 5 Mitglieder wollen sich am Kongreß mit Vorträgen beteiligen.

         Es ist Aussicht vorhanden, daß wir den Verleger Dick, der ein großes Hindernis unserer Bewegungsfreiheit in der psychoanalytischen Literatur war, mit Hilfe einer Abfindungssumme loswerden und die ungarische psychoanalytische Literatur dem Verlag anvertrauen können, vorerst die ungarische »Traumdeutung« und die »Vorlesungen«.

         Die Korrespondenz Abrahams mit Pfister und Stern,[5] die ein neues Zeugnis für den Takt und [das] Geschick unseres Präsidenten ist, schicke ich heute nach Berlin zurück.

         Ich ließ mir die englischen »Collected Papers« des Herrn Professors kommen und kann zu dieser Leistung der britischen Gruppe herzlich gratulieren.

         Mit herzlichen Grüßen

                                                                                            Euer,

                                                                                       Ferenczi

     

     

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    A        Dieser Rundbrief ist, mit Ausnahme der Unterschrift »Ferenczi« (diese in Bleistift), mit Maschine geschrieben.

     

    1        Hanns Sachs, ›Rank, O. Das Trauma der Geburt und seine Bedeutung für die Psychoanalyse‹ (Zeitschrift, 1925, 11: S. 106-113).

    2        „Ferenczi war über einen Sonntag bei uns. Wir haben uns über Vieles ausgesprochen und zu dritt Versuche über Gedankenübertragung gemacht, die merkwürdig gut ausgefallen sind, besonders jener Versuch, in dem ich selbst das Medium gespielt und dann meine Einfälle analytisch ergänzt habe. Die Sache rückt uns immer näher an den Leib” (RB Freud, 15.3.1925, SFC). Vgl. auch Freud an Eitingon, 3.3.1925 (SFC).

    3        Vortrag am 7.3.1925 über „Eine Geburt in Hypnose, danach Analyse der Mutter” (Zeitschrift, 1925, 11: S. 253).

    Sándor Lóránd (1893-1987), Arzt am städtischen Krankenhaus in Kaschau/Kosice, wurde im Anschluß an seinen Vortrag zum Mitglied der Ungarischen Vereinigung gewählt. 1923 Analysand Ferenczis, 1925 Emigration nach New York, wo er als Lehranalytiker und Klinikchef am Mount Sinai Hospital wirkte. 1947 Präsident der New Yorker Vereinigung. Verfasser zahlreicher klinischer Arbeiten und der ersten Kurzbiographie Ferenczis (in Franz Alexander et al., Psychoanalytic Pioneers. New York, 1966, S. 14-35); Herausgeber des Yearbook of Psychoanalysis (1945 ff.).

    4        Ein sechzehnstündiger einführender Kurs (Zeitschrift, 1925, 11: S. 505).

    5        In ersterer ging es wahrscheinlich um die Verlegung des Kongresses von der Schweiz nach Deutschland, in der zweiten darüber, ob Caroline Newton (1893-1975), eine Analysandin Ranks und Mitglied der Wiener Vereinigung, die nach den USA zurückgekehrt war, als Nichtärztin volles Mitglied der New York Psychoanalytic Society werden könne. „In der Angelegenheit Newton hatte ich (A[braham]) 3 Briefe von Stern, Monroe Meyer (Sekretär der NY Ps-A Soc.) und Miss N[ewton] selbst. Die Gruppe nimmt Anstoß daran, daß Miss N., die als Gast zugelassen war, mehrfach zu praktizieren anfing und Empfehlungsschreiben versandte. Die Kollegen in New York stehen auf einem sehr entschiedenen Standpunkt, wollen also Miss N. nicht mehr zulassen ... Sie möchten eine Statutenänderung dahingehend, daß Personen, die von einer Gruppe aufgenommen sind, auf Mitgliedschaft in einer andern nicht ohne weiteres Anspruch haben sollen” (RB Abraham, 15.3.1925, LOC). Vgl. Mühlleitner, Lexikon, S. 234f.