• S.

    Wien, am 13. I. 25.

    Nr. II.

    Liebe Freunde!

    Der abgelaufene Monat war besonders arm an Mitteilungen, welche
    für diesen Rundbrief verwertbar sind. Das wichtigste Ereignis dieser
    Zeit, die Rückkehr Ranks zu seinen früheren Freunden und zur psycho-
    analytischen Lehre ist durch zahlreiche Korrespondenzen zwischen
    uns von einem zum anderen erledigt worden. Er ist am 10. d. M. von
    Cherbourg abgereist und wird hoffentlich sein Versprechen halten,
    uns durch reichliche Berichte von seinem Schicksal dort zu unter-
    richten. Er ist der Träger eines Briefes an Brill, dessen Einsicht
    und Gutmütigkeit die Mission übertragen wird, die schwierige Lage,
    die er (R.) dort vorfindet, in Ordnung zu bringen.

    Das Lehrinstitut in der beschriebenen Zusammensetzung (Helene
    Deutsch, Bernfeld, Anna F.) und mit den erwähnten Absichten ist seit-
    her in der Vereinigung angenommen worden. Nicht ohne daß sich mehr-
    fache Opposition geregt hätte, der das Komité durch stetige Arbeit
    Herr werden soll. Ueber die Frage der ausserordentlichen Mitglieder
    ist noch nicht verhandelt worden. Wir danken London und Berlin für
    ihre freundlichen Auskünfte.

    Storfer entfaltet eine lebhafte Tätigkeit, von der er mir an
    einem der letzten Abende eingehende Rechenschaft gegeben hat. Drei
    neue Bände der Gesamtausgabe sind fertiggemacht, davon einer, der VI.,
    bereits erschienen. Es erübrigt nur noch die „Traumdeutung“, welche
    Band II. und III. füllen wird. Band II soll das Original der 1. Auflage
    reproduzieren, Band III alle Zusätze und Ergänzungen in neuer Be-
    arbeitung zusammenfassen. Leider habe ich wenig Zeit, mich dieser
    Aufgabe zu widmen, da ich durch einzelne Patienten, die ich sehen
    muß, Empfänge und Besprechungen in Anspruch genommen bin.
     

  • S.

    Der Dichter Lenormand, der mich aus Anlaß der Aufführung seines
    Don Juan-Stückes besuchte, machte einen sehr ernsthaften und sym-
    pathischen Eindruck und erzählte sehr Erfreuliches von der Aufnahme
    der Psychoanalyse unter den Literaten. Ich ließ seine Erwartung,
    daß die psychoanalytischen Tatsachen der Kunst Neues und Brauch-
    bares Tatsachenmaterial zuführen werden, ohne Kritik hingehen.
    Immerhin fand ich es beruhigend, daß er das Arbeiten nach Rezepten
    als gefährlich und unwürdig verurteilte. – Von Neuerscheinungen auf
    engstem Gebiete kann ich die französische Uebersetzung der Massen-
    psychologie von demselben Jankelevich anzeigen.

    Rank hat vor seiner Abreise den Wunsch ausgedrückt, der Verlag
    möge seine bisherigen, die Analyse streifenden Arbeiten (Heilungs-
    vorgang, Perversionen, psychische Potenz) unter einem Titel wie
    „Neurose und Schuldgefühl“ als Büchlein herausbringen. Ich bin
    dieser Absicht nicht sehr günstig, finde auch, daß der Titel den
    Inhalt nicht deckt und habe mit Storfer beschlossen, diese Ver-
    öffentlichung hinauszuschieben.

    Unter den mir eingereichten Manuskripten erwähne ich eines von
    Reik „Ueber den Geständniszwang“, aus dem sich wirklich eine Bereich-
    erung unserer Anschauungen ergeben dürfte.

    Mit herzlichen Grüssen allerseits

    Freud  
    Anna Freud