• S.

    Rundbrief Nr. 3.  
                               Wien, Mitte Februar 1925.

    Liebe Freunde!  

    Heute liegt eine grosse Anzahl von Themen vor, über die wir uns kurz  
    äussern wollen.  

    Das Schicksal von Frink geht mir sehr nahe. Es scheint ja, dass er für  
    uns wie für die Welt verloren ist. Er war der einzige Amerikaner, von dem  
    ich nach Gesinnung und Begabung etwas erwartet hatte.  

    Um bei Amerika zu bleiben: Miss Newton schrieb mir einen Brief, in  
    welchem sie beklagte, dass sie, obwohl Mitglied der Wiener Vereinigung, von  
    dem Besuch der Versammlungen in Newyork ausgeschlossen wurde. Sie hat gleich-  
    zeitig den richtigen Weg beschritten, indem sie ein mit allen Belegen ver-  
    sehenes Schreiben an Abraham als unsern Präsidenten richte-  
    te. Ich will nur  
    bemerken, dass die Wiener Vereinigung offenbar gegen die Vorschrift handelte,  
    indem sie eine anderswo wohnende und dort aus-  
    übende Person zu ihrem Mitglied  
    machte und dadurch in die Gefahr kam, der auswärtigen Vereinigung ein ihr  
    vielleicht nicht genehmes Mitglied zu oktroyieren. Die Wahl geschah während  
    der Zeit meiner Krankheit, als ich mich von den Vereinsangelegenheiten ferne  
    hielt.  

    Ich höre, dass ich in Berlin durch meine Weigerung, Mr. Goldwyn zu empfan-  
    gen, sehr populär geworden bin. Sachs, der heute bei uns war, meint, mein  
    Absagetelegramm habe mehr Eindruck gemacht als die Traumdeutung. Ich kon-  
    statiere, dass die Zeitungsberichte über den Verlauf der Affaire ausnahmsweise  
    einmal korrekt sind.  

    Von Rank erhielt ich aus Newyork einen Brief und zwei Telegramme, deren  
    Inhalt besagt, dass er seine Aufgabe in zufriedenstellender Weise erledigt  
    habe und noch vor Ende des Monats in Wien eintreffen werde. Storfer hat von  
    seiner Frau gehört, dass er sich noch in Paris aufhalten und dort an der  
    Sorbonne einen Vortrag halten wird. Seine Rückkehr ist gewiss auch durch den  
    Tod seines Bruders Dr. Rosenfeld beschleunigt worden.
     

  • S.

    II.  

    Um nun nach seinem Beispiel Amerika mit Europa zu vertauschen, wollen 
    wir beide unserer Befriedigung Ausdruck geben, dass die Kongressangelegenheit 
    so glatt geordnet werden konnte. An landschaftlichen Schönheiten kommen 
    wir freilich dabei zu kurz. Es wäre uns recht gewesen, bei dieser Gelegen-  
    heit etwas von der Schweiz zu sehen. Ich kann ja mit Rücksicht auf die  
    Gehöranstrengung unmöglich durch einige Stunden Vorträge mitanhören. Anna  
    wird darin gewissenhafter sein. Voraussetzung natürlich, dass mein Gesund-  
    heitszustand sich gegen heute nicht verschlechtert.  

    Im vorigen Monat erhielt ich einen liebenswürdigen Brief von  
    Vaihinger, dem Philosophen des „Als ob“, eine angebliche Pachtung Adlers.  
    Dem Schreiben lag ein Feuilleton desselben aus den Münchner Nachrichten  
    vom 19. Januar bei. Bei dem Ansehen V’s ist es immerhin nicht gleichgültig,  
    dass er sich so respektvoll in der Öffentlichkeit über uns äusserte. Er  
    versäumt es natürlich nicht, auf die Ahnungen der Psychoanalyse bei  
    Schopenhauer hinzuweisen und hat ja Recht darin.  

    Berlin mache ich besonders aufmerksam auf die Person eines Dr. Schindler,  
    der ein Berliner ist und binnen kurzem nach Berlin zurückkehren wird, um  
    dort Ps.A. zu praktizieren. Der Mann suchte mich auf, stellte sich als  
    Schüler von Stekel vor und sagte, es müsse doch für ihn einen Weg geben, an  
    unserer Arbeit teilzunehmen, da er ohnedies auf dem gemeinsamen Boden stehe.  
    Ich erklärte ihm, es gebe keinen direkten Weg von Stekel zu uns, riet ihm,  
    seine Bemühung um Annäherung auf Berlin zu verschieben und bereitete ihn  
    darauf vor, dass man dort ihn auffordern werde, durch eine neuerliche,  
    wenn vielleicht auch kurze Analyse, den Beweis zu liefern, dass er wirklich  
    für die Mitarbeit reif sei. Ich meine, dies sei prinzipiell der Weg, den  
    man solchen Ankömmlingen weisen müsse. Ohne jede Prüfung abweisen oder auf-  
    nehmen, geht ja wohl nicht an. Die Stekel’sche Schule ist überaus anrüchig.  
    Es ist unzweifelhaft, dass er Leute, die sich zur Behandlung bei ihm melden,  
    Ärzte oder nicht, nach der kürzesten Zeit für äusserst begabte Analytiker
     

  • S.

    III.  

    erklärt, sie zu seinen „Schülern“ erhebt und ihnen Gratispatienten aus-  
    liefert. Was das Schicksal dieser armen Opfer wird, das ist aus dem Brief  
    einer solchen Patientin zu ersehen, den ich für alle Fälle aufbewahre.  

    In voriger Woche gab es an drei Tagen Zeugnisse für meine wachsende  
    Popularität in Frankreich: einen Zeitungsartikel, ein mir gewidmeter  
    dummer Roman und eine ernsthaftere These. Der stärkste literarische Ein-  
    druck dieses Monats kam mir aus einem Bericht über Telepathieexperi-  
    mente mit Professor Murray (Proceedings of the Society for Psychical Research,  
    Dec. 24.). Ich bekenne, dass der Eindruck dieser Berichte so stark war,  
    dass ich bereit bin, meinen Widerspruch gegen die Existenz der Gedanken-  
    übertragung aufzugeben, obwohl ich natürlich nicht das mindeste zu ihrer  
    Erklärung beitragen kann. Ich wäre sogar bereit, der Sache der Telepathie  
    die Unterstützung durch die Psychoanalyse zu leihen. Eitingon hat das  
    Manuskript des geheimen Aufsatzes mitgenommen, aus dem ich auf unserer  
    Zusammenkunft im Harz solche analytische Bekräftigungen der telepathischen  
    Hypothese ableitete. Ich würde mich heute entschliessen, diesen Aufsatz  
    in die Welt zu schicken und würde das Spektakel nicht scheuen, den er un-  
    fehlbar hervorrufen würde. Aber als unübersteigliches Hindernis erhebt  
    sich die Schranke der ärztlichen Diskretion, welche durch diese Veröffent-  
    lichung aus der Lebensgeschichte zweier Analysierten schwer verletzt würde.  
    Gerade das Aufsehen dieser Publikation macht die Zurückhaltung derselben  
    zur Pflicht, Entstellungen sind unstatthaft, Milderungen würden nichts  
    helfen. Sollte das Schicksal die beiden Empfänger der nicht eingetroffenen  
    Prophezeiungen vor mir sterben lassen, so fiele das Hindernis weg. Das  
    Heft der Proceedings steht übrigens zur Versendung an jeden, der es wünscht,  
    bereit.  

    Der Ophthalmolog Dr. Inman aus Portsmouth hat mich nach seiner Analyse 
    bei Ferenczi aufgesucht, mir von seinen Erfahrungen erzählt und ein
     

  • S.

    IV.  

    Manuskript hinterlassen. Er machte mir einen vortrefflichen Eindruck. Ich  
    hoffe, Jones wird sich bewogen finden, ihn enger an die englische  
    Gruppe zu knüpfen. Er arbeitet über den Einfluss psychischer Erregung  
    auf die organischen Krankheiten seines Gebietes, unterscheidet aber, wie  
    ich ihm schreiben werde, nicht scharf genug, zwischen einem wirklich  
    psychogenen Zusammenhang und einem toxischen oder vasomotorischen, der  
    für die Psychoanalyse wenig Bedeutung hätte.  

    Die Tätigkeit unserer Wiener ist entschieden im Zunehmen. Der Verlag  
    druckt jetzt drei neue Bücher, Reich: Triebhafter Charakter, Reik: Geständ-  
    niszwang, Schilder: Psychiatrie auf psychoanalytischer Grundlage und  
    aus einem sehr interessanten Entwurf von Bernfeld über die „Grenzen der  
    Erziehung“ wird ein viertes Buch hervorgehen.  

    Der Brief ist ohnedies zu lang geworden, darum nur noch herzliche  
    Grüsse an alle.  

                                           Freud