S.
Maria-Wörth, 25. Juli 1911.
Hochverehrter Herr Professor!
Schönsten Dank für Ihr freundliches Schreiben. Ich muss gestehen, dass ich den anspruchsvollen Plan, den Sie aus meinem Unbewussten herausgelesen haben, nur für Rom verwirklichen möchte und noch einmal zu verwirklichen hoffe. Sonst möchte ich noch einzelnes in Florenz und Neapel genauer studieren und länger genießen, aber mich daran nicht übersättigen, was wie ich fühle nur bei Rom miemals der Fall sein könnte. Übrigens habe ich hier, wo es mir sehr gut geht, reichlich Gelegenheit, mich von den Strapazen der Reise zu erholen und für den Winter zu stärken; ja ich fühle mich schon jetzt wieder ganz frisch und fürchte schon, zu faul zu werden.
Eine Skizze meiner Tages-Untätigkeit mag Ihnen die Befürchtung glaubhaft machen. Um 7 aufstehen, um 8 Frühstück, dann nehme ich an der English lesson der Kinder teil. Dann rudere [?] ich meist zur Post hinüber, schauen, ob ich etwas bekommen habe, was fast jeden Tag der Fall ist. Dann wird gebadet (gestern hatte das Wasser 21 Grad) und gesonnt bis Mittag. 1 h Essen, dann bis zur Jause Lektion in Latein u. Griechisch, meine eigentliche Tätigkeit. Und nun entscheidet es sich, ob ich etwas arbeite oder den Rest des Tages verbummle, was zumeist der Fall ist. Abends haben wir meist Konzert oder die Amerikanerin der Kinder liest uns The Adventures of Huckleberry Finn in dem schrecklichen Nigger-Dialect vor. Heute sind die Kinder weg und diesen Tag hoffe ich doch [noch?] zum arbeiten benützen zu können.
Ich habe übrigens gar nichts besonderes vor, sondern möchte nur das Material, das sich im Laufe des Jahres angesammelt hat, ordnen und zusammenstellen. - Mit den Lohengrin-Korrekturen geht es langsam vorwärts, doch hoffe ich noch vor dem Kongress fertig zu werden. Die Einladungen habe ich, wie Sie aus der Beilage ersehen, bereits von Jung erhalten und auch schon verschickt. Ebenso ist Drosnés' Mskpt. an Stekel abgegangen. Darf man sich nach dem "Magischen" [Lesung unsicher] erkundigen?
In den Worcester Vorlesungen ist irgendwo als[?] Anmerkung die Sexualtheorie mit falschem Titel und falscher Jahreszahl zitiert; sie [sic] übersehen es wohl nicht wieder.
Mit Stekel habe ich mich wieder so ziemlich abgefunden und den ersten Ärger über sein anmaßendes Schreiben gänzlich verschmerzt, was bei diesen Temperaturen kein Wunder ist. Nach dem letzten (Juli-)Heft, das ganz "eropsychisch" ist, begreife ich seinen Widerstand. Deuticke wäre in jeder Hinsicht unser Ideal und schwebte uns heimlich auch immer vor. Nach Ihrer Mitteilung dürfen wir ja auch die letzte Hoffnung hegen und sind froh, die Sache in Ihren Händen geborgen zu wissen.
Adlers Brief an Jung deutet darauf hin, dass er "den alten Kampf gegen seinen Lehrer" hartnäckig fortzusetzen gewillt ist. In seinem letzten Artikel über Syphilidophobie hat er entdeckt, dass die Phobien Sicherungen sind und hat daher nicht einmal des schönen Gleichnisses von der Grenzfestung gedacht. Dagegen zitiert er Stekel nach den Versen Leutholds[?]:
Sofern Du eifrig darüber streichst
Gleichet dem Gold das Messing.
Und wenn Du mich mit Goethe vergleichst,
Vergleich ich Dich mit Lessing.
Auch sucht er Anhänger zu werben, indem er lobend zitiert (Philipp Frey), was doch sonst nie seine Sache war.
Maday wünschte Auskunft über die Vorgänge im Vereine, um event. dazu Stellung nehmen zu können; ich berichtete ihm die nackten Tatsachen auf einer Karte. Sachs wird vielleicht auf der Rückreise hier unterbrechen.
Mit den besten Wünschen für Ihre Erholung bin ich dankbar ergebener Rank.