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    PROF. DR. FREUD   WIEN IX., BERGGASSE 19 
    Semmering

    3. 8. 27

    Liebe Ruth

    Trotz Lindbergh dauert ein Brief nach 
    Ihrem Amerika noch immer 12 Tage, 
    ich muß Ihnen also schreiben, wenn Sie 
    vor Ihrem Besuch hier oben noch etwas 
    von uns hören sollen. Ich bin sehr einver-
    standen mit Ihrem Besuch vor dem Kon-
    greß, nachher wird es ein Gedränge geben.

    Die Erzälung Ihrer Abenteuer hat mich 
    ungemein amüsirt, obwol Ihnen nicht im̄er 
    so lustig zu Mute gewesen zu schein 
    sein scheint. Sie sind eine Personal-
    union von einem klugen Kopf und 
    einem wilden Weibsteufel. Ein großes 
    Wunder, wenn die zwei nicht friedlich 
    mit einander hausen! Aber ich denke, 
    es kommt noch eine gute, ganz interessante 
    Ehegemeinschaft zwischen beiden zustande.

    Wahrscheinlich ziehen Sie es aber vor, 
    etwas von hier zu hören. Leider habe ich 
    Ihnen schon soviel geschrieben, daß ich 
    nicht mehr weiß, was ich Ihnen geschrieben 
    u was nicht. Wenn ich mich also wieder-
    hole, verwundern Sie sich nicht.

    Um mich an Ihren Brief zu halten: Nein, 
    ich will nichts dazu thun, die Amerikaner 
    aus der Vereinigung zu schaffen.  Beweis, 
    der Nachtrag zur Laienanalyse enthielt 
    eine böse Kritik der amerikan. Verhält-
    niße; ich habe sie von der Veröffent-
    lichung zurückgehalten.  Sie existirt 
    aber im Mnsk und sie können sie 
    lesen, wenn sie zurückkommen. 
    Die letzte Resolution der Amerikaner 
    die an alle Vorsitzenden verschickt wurde, 
    ist unnötiger Weise anmaßlich, als ob 
    sie der Congreß von Amerika wären 
    u nicht ein Häuflein einflußloser, – 
    sagen wir Ignoranten. Eitingon wird 
    auf unserem Kongreß sehr diplomat-
    isch

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    vorgehen und es wahrscheinlich nicht zur Abstimmung 
    über die Laienfrage kom̄en laßen. Aber 
    die Amerikaner werden sich über kurz 
    oder lang von uns ablösen wie ein 
    Sequester.

    Ich hatte nicht vor, etwas zu schreiben, aber 
    unlängst ist mir der Aufsatz über den 
    Fetischismus, ich darf sagen, aus der Feder 
    gerutscht, nicht groß, sechs Seiten lang. 
    Nicht wahrscheinlich, daß etwas nachkom̄t. 
    Gesundheit mäßig, das Herz zwar ganz ruhig, 
    aber der Dickdarm macht Schwierig-
    keiten, kurz immer etwas, was dem 
    armen Ich höchst überflüßig scheint.

    Der Vorschlag, mir eine neue Prothese 
    machen zu lassen, kom̄t mir vor, als ob 
    jemand, der zweimal unglücklich ver-
    heiratet war, zugemutet würde, ein 
    drittes Mal auf die Freite  zu gehen.

    Ich vermeide es jetzt nach Wien zu fahren 
    u suche einen netten kleinen Zahnarzt 
    hier oben zu bewegen, sich der Sache anzu-
    nehmen.

    Wir haben heuer einen wunderbar milden 
    Sommer, mit allem Zauber der Jahres-
    zeit. Nur gewittert es häufig u Wolf 
    ist, wenn er den Donner gehört hat, 
    über den ganzen Tag verstört.

    Wissen Sie schon was Marie aus Leyrin 
    berichtet, daß die Kleine eine Rezidiv 
    ihrer Pleuritis hat, wieder mit Icterus.  
    Habe ich Ihnen schon geschrieben, wie entzückt 
    ich von Ihrem Hawthorne war? Ich 
    finde The house of the seven gables noch 
    um besser als The scarlet letterThe 
    marble faun leidet an einem Koompos-
    itionsfehler:  Aber der Mann ist ein 
    Dichter.

    Ich grüße Sie herzlich u wünsche Ihnen 
    viel Klärung u Sicherheit 
    Ihr 
    Freud