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S.
PROF. DR. FREUD
WIEN, IX., BERGGASSE 19.
noch immer Tegel8. 7. 1930
Liebe Ruth
Ich danke für alle Ihre Nachrichten, die
mir vollen Einblick in Ihre komplizirte
Situation geben. Ich bedaure in sehr
eigennütziger Begründung die Unsicher-
heiten, die sich daraus ergeben, aber
irgendwie erwarte ich, daß es Ihrer
Energie wiederum gelingen wird,
wie noch zuletzt in Grlsee, durchzu-
setzen, was sie wollen.Ihre rührende Teilnahme am Prothesen-
abenteuer verdient eine ausführliche
Mitteilung, die mir gleichzeitig als
Übung zu einem bestimmten Zweck
dienen soll.Die Situation ist nämlich noch komplizirter
und ungünstiger, als Sie sie sehen. Auf
meiner Seite haben Sie einen wichtigen
Posten ausgelassen, meine Abstinenz,
die meine psychische Resistenz so herab-
setzt, daß diese 9 Wochen mit ihren
kleinen Enttäuschungen und Warte-
zeiten – einmal eine Woche, oft Tage,
im̄er Stunden – mich arg wundge-
rieben haben. Aber es ist noch etwas
auf der anderen Seite. Schröder, den ich
diesmal genauer studirt habe, ist
nämlich nicht, wie er selbst behauptet,
von dem Typus des Arztes, der durchaus
helfen muß, sondern er ist ein
Künstler, ein artisan der in sein
Werk verliebt ist – vgl E. T. A. Hoffman̄’s
Erzälung: Das Fräulein v. Scudery – -
S.
für dieses Werk arbeitet er; wenn es fertig ist,
lobt er es, und wer nicht zustim̄en kann,
ist nicht sein Freund. So stellt er in dem
Dreieck Arzt, Patient, Prothese die Situat-
ion her: Arzt + Prothese gegen Patient
anstatt der einzig berechtigten Arzt + Patient
gegen Prothese Dazu kom̄t, daß er unmensch-
lich u unzweckmäßig viel zu thun hat.
Freilich brauche ich mir daraus keinen Vor-
wurf zu machen; wenn ich es nicht bin,
ist es ein anderer. Gegenwärtig ist
die Sachlage so, daß ich am letzten Samstag
das definitive Stück bekom̄en habe,
das bis heute (Dienstag) so große Störungen ent-
wickelt, das ich mich eigentlich nach der
abgelegten alten zurücksehne. Nun,
das soll nicht sein, man soll am Fertigen
nur Feinheiten zu reguliren haben.
Aber er verlangt, daß es gut sei, nim̄t
sich kaum Zeit, meine Klagen anzuhören
u ist offenbar durch sie verstim̄t. Gestern
kam ich mit neuen Beschwerden zu
ihm. Er änderte etwas, ohne Aufklärung
zu geben, und als ich fragte, ob ich doch
bald arbeiten könnte, sagte er: O ja,
nach meinem Gefül sitzt es gut. Aber
der Pat. hat zu entscheiden; man
muß jetzt abwarten, wie es sich
entwickelt. Das klingt nicht freundlich
u nicht hoffnungsvoll. Er wird gewiß
ebenso froh sein, mich los zu werden,
wie ich ihn. Aber sie soll ich aus ihm
noch herausbekom̄en, was ich doch
brauche? Und es ist eine Art Abhängig-
keit, die mein Es sehr schlecht vert-
rägt.In solchen Verlegenheiten schicke ich Ihnen
herzliche Grüße.
Ihr
Freud
Berggasse 19
Wien 1090
Austria
Perntergasse 11
Wien 1190
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