• S.

    PROF. DR. FREUD 
    WIEN, IX., BERGGASSE 19. 
    Tegel

    13. 3. 1929

    Liebe Ruth

    Sonderbare Gefühle zwischen 
    den drei Zeiten. Ihr 
    Brief vom 27/2 fordert Teil-
    nahme für Leiden, von 
    denen ich sicher weiß, daß 
    sie jetzt vorüber sind, 
    und dabei weiß ich nichts 
    davon, wie es Ihnen und 
    der Kleinen jetzt geht 
    nach dieser ersten für 
    Beide so wichtigen 
    Lebenswoche. Nur um Mark 
    braucht man keine Sorge 
    zu haben doch hoffe ich 
    auch für die beiden anderen 
    das Beste.

    Ein anderes Stück Vergangen-
    heit. Sie klagen, wie un-
    möglich es ist, für den armen 
    Verlag Geld zu beschaffen, 
    und ich weiß, daß Sie seit-
    her $ 4000 geschickt haben. 
    Durch Sie u Marie ist 
    die Sache diesmal gerettet 
    worden. Ich weiß, ein 
    nächstes Mal gäbe es 
    keine Hilfe mehr. Übrigens 
    als Auskunft für die 
    wißbegierigen Kritiker: 
    Der Verlag ist nicht als eine 
    kaufmännische Unternehmung 

  • S.

    zu betrachten. Wir 
    wußten von Anfang an, daß 
    er infolge seiner Beschränkung 
    auf ψα Literatur strengster 
    Sonderung nie aktiv sein 
    sondern sich bestenfalls 
    zeitweise selbst erhalten 
    kann, wahrscheinlich aber 
    regelmäßige Zuschüße 
    aus dem erhofften ψα Fond 
    benötigen wird, kurz, daß 
    er eine Institution ist 
    u kein Geschäft. Auch die 
    Übersiedlung war nicht frei-
    willig, er wurde gekündigt, 
    verlor den Prozeß gegen 
    den Hausherrn, u Sie wissen, 
    wie schwierig und kostspielig 
    es jetzt in Wien ist, eine 
    neue Wohnung zu finden. 
    Nebenbei sollen die Fehler 
    von Storfer nicht geleugnet 
    werden. Eine Änderung ist 
    jetzt notwendig.

    Mit Eitingon bedaure auch 
    ich, daß Sie sich aus Loyalität 
    verpflichtet glaubten, Brill 
    von Ihrer Absicht, für den 
    Verlag zu sammeln, Mit-
    teilung zu machen. Wir 
    sehen nur den Feind in ihm. 
    Nach dem Gespräch mit Ihnen

  • S.

    2)

    hat er bei Jones um Auskunft 
    über den Verlag angefragt. 
    Daß Eitingon auch existirt, ist 
    ihm übhpt nicht eingefallen. 
    Er hätte auch mir schreiben 
    können.

    Die NY Athmosphäre scheint etwas 
    ganz Besonderes zu sein.  
    Was Sie über Lehrman hören, 
    ist sehr merkwürdig. Ich 
    bin bereit, Ihnen zu ver-
    sichern, daß es nicht wahr 
    sein kann. Wenn ein 
    Mensch ein Phantasielügner 
    ist, pflegt er sich im Lauf 
    von 6 Monaten irgend 
    einmal zu verraten. Er 
    ist im Gegenteil gutmütig 
    und eher naiv, spricht freund-
    lich über alle in NY mit 
    Ausnahme von Oberndorf 
    u Wechsler, hat hier mit 
    allen verkehrt u alle 
    haben ihn lieb gewonnen. 
    Die Reden in NY sind wahr-
    scheinlich Erfolge von Neid 
    u Eifersucht, weil er es 
    als junger Mensch zu etwas 
    gebracht hat u durch seinen 
    Aufenthalt in Europa

  • S.

    sein Prestige steigern wird. 
    Ähnlich zu beurteilen wie die 
    Verleumdungen in amerik
    Walkampagnen. Ich möchte, 
    daß Sie mir vorläufig mehr 
    glauben als Ihren Lands-
    leuten. Wir haben Lehrman 
    hier etwas europaeisch an-
    gestrichen, aber dieser Über-
    zug wird in der Luft 
    von NY sehr bald ab-
    fallen.

    Schröders Prothese hat sich sehr 
    gut gehalten, der Kiefer 
    hat sich verändert. Er hofft 
    bald fertig zu sein, viel-
    leicht, wenn Sie diesen 
    Brief erhalten, sind wir 
    bereits Berggasse 19.

    Schade, daß dieser Brief soviel 
    anderes enthalten mußte 
    als die Freude über Ihr 
    Töchterchen und die Begierde 
    zu wissen, wie es Ihnen 
    geht. Ich kable heute. 
    Herzlich Ihr
    Freud