• S.

    PROF. DR. FREUD  WIEN, IX., BERGGASSE 19.
    20 Maresfield Gardens NW 3

    13. Oct. 1938

    Meine liebe Ruth

    Beinahe hätte ich Ihnen Englisch geschrieben. 
    Aber nein, glauben Sie mir, die ärgste 
    der Entbehrungen im Exil ist die Sprache –

    Ihr Brief hat mich sehr betrübt, Sie 
    leben da offenbar in einer Zeit, in 
    der alles gegen einen geht. Wie sollen 
    Sie zu Arbeit und Gesundheit kom̄en, 
    wenn Sie beide Eltern zum Ende 
    zu pflegen haben, dazu ohne die Hilfe 
    eines Mannes, auf den doch eine ver-
    heiratete Frau ein Anrecht hat? Ich weiß 
    natürlich, Ihre Energie wird alles über-
    stehen, und analytisch sind Sie jetzt auch 
    gefestigt, Sie werden hinzusetzen, daß 
    Sie auch einen Anhalt an Adler 
    haben. Aber es bleibt abscheulich.

    Wir sind oder waren ja in einer 
    ähnlichen Phase, Krankheiten und 
    Schwierigkeiten. Selbst die Thürklinken 
    sind nicht aufgegangen, selbst der 
    kleine Pekinese Jumbo, Platzhalter 
    für Lün, ist heute beim Thierarzt, selbst 
    die sonst unschätzbare Paula benim̄t 
    sich so verrückt, daß Anna an ihrem 
    Bleiben zweifelt. Martin war schwer 
    krank einer Coli‑Infektion, er ist 
    wieder auf – noch schwachen – Beinen.  Ich 
    bin – nach 5 Wochen – auf dem Wege 
    der Herstellung, aber die Oberlippe 
    ist noch gelähmt, Rauchen u Trinken

  • S.

    unvollkom̄en, das Stückchen Knochen, das Pichler 
    beleidigt hat, noch nicht abgestoßen, daher 
    nächtliche periostitische Schmerzen. Nachher soll 
    die Prothese, die jetzt sehr schlecht dient, 
    den neuen Verhältnißen angepaßt 
    werden.

    Tante Minna sehr gequält von einer Coli
    Cystitis; nach ihrem Herzen befragt, schüttelt 
    der Dr Gurewitsch den Kopf. Im besten 
    Fall noch ein langes Krankenlager, den 
    anderen Fall schließt er nicht aus. 
    Es paßt kaum zu diesem Ensemble, daß 
    Mathildens Geschäft in der Bakerstreet 
    einen guten Anfang gemacht u daß der 
    träge (kleine) Ernst wirklich eine bezalte 
    Stellung bei einer photogr Firma gefun-
    den hat. Ich arbeite an meinen zwei 
    mitgebrachten Patienten, eine neuge-
    kom̄ene auch Newcastle mußte ich 
    als unbrauchbar nach einer Woche 
    wegschicken. Das sieht nicht günstig 
    aus, in der 10 Millionenstadt scheint 
    nicht viel Bedürfnis nach Behandlung 
    durch meine, sonst so populäre, Person.

    Dabei ist auch soviel Großes in der 
    Welt vorgegangen, eigentlich auch von 
    trauriger Art.  Meine kleine ur-
    czechische Vaterstadt scheint deutsch gewor-
    den zu sein, gute Aussicht für meine 
    Gedenktafel.

    Nun schreiben Sie bald wieder
    Ihrem 
    Freud