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S.
PROF. DR. FREUD
WIEN, IX., BERGGASSE 19.2. 6. 1929
Liebe Ruth
Es thut mir leid, daß Sie eine Zeit lang
vergeblich auf meine Briefegeantwor
gewartet haben. Sie vermuten auch
richtig, daß ich unter der Belastung der
leider unvermeidlichen Beantwortungen
stand. Ich habe mich unterdeß mit allen
Ihren Nachrichten über Til’s Entwick-
lung und Ihren sonstigen Berichten
gefreut. Von uns ist weniger zu sagen.
Das Haus wird „abmontiert“, die Ge-
danken sind vorausgeeilt nach
Berchtgden. Anna ist schon sehr übermüdet,
meine Hausfrau hat die Hände voll
Arbeit. Tante Minna schwelt im
Zauber von Abbazia.Pierce Clark war vor zwei Tagen bei
mir. Guter Eindruck, gewiß nicht sehr
gescheit aber honest von der Analyse
gepackt und eher als andere bereit,
um ihretwillen auch in die Opposition
zu gehen. Gleichzeitig war seine
Tochter, die Laienanalytikerin für
Kinder werden will, bei Anna,
der sie recht gut gefallen hat.
Der erste meiner neuen Amerikaner,
Dr Clinton McCord aus Albany, der
nur über Sommer bleiben kann,
ist bereits eingetroffen ein lieber,
tüchtiger Kerl, alter Praktiker
in Analyse, der sich jetzt in der
passiven analytischen Situation
sehr komisch fühlt. Einen zweiten, -
S.
Dr Smiley Blanton, gleichfalls aus Albany, er-
warte ich im August. Jetzt scheinen doch
bessere Leute aus US.A. zu mir zu kom̄en,
nicht mehr solche worthies wie Oberndorf, Stern, Asch u Leonard Bl.Nachtrag zu Ihrem neuen Schwager David u
zweite Begründung seiner Arbeitshemmung:
Mit dem Aufgeben der Onanie hat er die
Kastration angenom̄en; zur Kompensation
wird er nun selbst ein Penis dh: die
narzißtische Fürsorge vom aufgegebenen
Organ geht auf’s Ich über, man wird weh-
leidig u schont sein liebes Ich, fürchtet sich es
zu beschädigen, wie es durch schwere
Arbeit geschehen würde, oder mit noch
anderen Worten: wenn der Penis
nichts mehr arbeiten darf, will auch das
Ich, das an seine Stelle getreten ist,
nicht arbeiten. Die Analyse mit David
geht jetzt so, daß er in allen Punkten,
ob nun Verhältnis zu Dory, zu mir, zur
Arbeit, zur Analyse usw – regelmäßig zwei
entgegengesetzte Einstellungen produzirt,
u darüber einen Guß unerbittlicher
Selbstkritik ausschüttet. Damit ist alles
erledigt, alles bleibt unverändert,
ich darf zuhören u kom̄e kaum dazu
etwas dreinzureden.Es freut mich sehr, daß Ihre beiden Analysen
in der Literatur eine so gute Aufnahme
finden u soviel, meist anerkennende
Behandlung erfahren. Kürzlich las ich einen
Aufsatz von Harnik, der Ihrer Wolfs-
mannanalyse, die er sonst sehr lobt,
etwas Kritik anhängt. Es ist ganz klug,
aber ich meine, die Antwort wird
Ihnen doch nicht schwer werden.Eben hat Marianne’s Besuch den
Brief unterbrochen.Ich grüße Sie mit Mark
u Baby
herzlichst Ihr
Freud