• S.

    PROF. DR. FREUD 
    WIEN, IX., BERGGASSE 19.

    14. 4. 1935

    Meine liebe Ruth

    Sie haben Anna versprochen, zu mir 
    zu kommen, aber ich weiß nicht, ob 
    Sie es thun werden. Mein Bedürf-
    nis, mit Ihnen über Ihre Lage zu sprechen 
    ist so groß, daß ich ihm in einem 
    Schreiben Ausdruck geben muß. 
    Ich weiß nicht, wie Sie es aufnehmen 
    werden, ich glaube nicht, daß Sie es 
    mir übel nehmen können.

    Ich will eigentlich nur einen Gesichts-
    punkt ausführen. Sie haben gleichzeitig 
    mit drei Problemen zu ringen: die 
    eigene Krankheit, der Zustand Ihrer 
    Mutter, der Konflikt mit Mark. Mit 
    scheint der einzige Ausweg, die drei 
    Aufgaben zu separiren und einzeln 
    nach einander zu erledigen.

    Am ehesten bei Seite schieben läßt 
    sich die Sache mit Mark. Ich behaupte 
    nicht, daß er geheilt, dh vom Fetisch 
    befreit werden kann, aber es ist 
    unverkennbar, daß sich wichtige Ver-
    änderungen bei ihm vollziehen, die 
    sich äußern werden, wenn die Ana-
    lyse vorüber ist. Ungeachtet seines 
    Trotzes hängt er der Analyse an 
    und zeigt sich nicht unzugänglich. 
    Die aktuellen Anforderungen, die 
    das Zusam̄enleben mit Ihnen an 
    ihn stellt, sind der Analyse eher 
    ungünstig. Eine zeitweilige Absonder-
    ung wird keinen bleibenden 
    Schaden zur Folge haben. Also ich 
    meine, das Problem Mark kann 
    warten.

  • S.

    Von den beiden anderen was zuerst? 
    Da bedaure ich ernsthaft nur die Notwendig-
    keit der Sonderung einsehen zu können 
    und die wichtige Frage der Reihenfolge 
    unbeantwortet lassen zu müßen. Die 
    bleibt für Ihre Entscheidung. Ich bin sicher, 
    Sie haben ein organisches Leiden, Deutsch 
    sagt das Gleiche von der Mutter. So 
    lange Sie krank sind, können Sie wenig 
    für die Mutter thun. Nun ist die 
    Frage, halten Sie sich für soweit leist-
    ungsfähig, daß Sie nach Hause reisen 
    und sich um die Mutter kümmern 
    können; dann sollten Sie möglichst 
    bald nach New York fahren und Ihre 
    Operation aufschieben, bis Sie über die 
    Mutter klar sehen. Oder Sie können 
    es nach allen Anzeichen nicht unter-
    nehmen, dann heißt es, die Sache 
    mit der Mutter muß warten, zuerst 
    muß ich hier gesund werden. Das Eine 
    nach dem anderen!

    Das scheint Ihnen vielleicht keine tiefe 
    Weisheit, aber es zeigt doch wenigstens 
    den Weg zu einem Entschluß. Die 
    Unentschiedenheit ist doch das Quälendste 
    und Unvorteilhafteste. Eine gewiße 
    Ähnlichkeit mit der Situation nach 
    Ihrem allerersten Brief drängt sich 
    mir auf. Auch damals war mein Rat, 
    nicht mehrere Hasen gleichzeitig zu jagen. 
    Der Unterschied ist nur, mein Rat war 
    damals nicht ungebeten. Aber es ist 
    mir schwer, unthätig zu bleiben, wo 
    Sie es so schwer haben.

    Herzlichen Gruß Ihr
    Freud