• S.

    25. 2. 1939

    PROF. SIGM. FREUD 20 MAREFIELD GARDENS.
    LONDON N.W.3.
    TEL: HAMPSTEAD 2002.

    My dear Ruth

    Ich habe eben meiner Vormittagspatientin 
    abgesagt, bin also Freiherr, habe beim 
    Frühstück (Kipper) Ihren Brief gelesen, 
    und muß Ihnen doch wieder einmal 
    schreiben. Warum nicht öfter und früher? 
    Das kom̄t von den Schmerzen, sie 
    lähmen einen. Man würde sagen, sie 
    machen einen apathisch, wäre das Wort 
    nicht so besonders unangebracht 
    und wüßte man nicht so sicher, wo 
    die nicht verfügbare Energie unter-
    gebracht ist. Für einen analogen Fall 
    hat es Wilh. Busch gesagt:

    „Es wohnt die Seele
    in eines Backenzahnes Höhle.“

    Aus Ihrem lieben Brief ersehe ich, daß 
    Sie über meine Lage voll unter-
    richtet sind, und ich glaube, alles 
    was Sie darüber schreiben, trifft 
    zu. Es muß sich um eine Rezedive 
    handeln, die das Periost, wahrschein-
    lich auch den Knochen, ergriffen 
    hat. Die Diagnose, daß es sich nur um 
    die Abstoßung eines zweiten Sequest-
    ers handelt, habe ich lange vor meinen 
    Ärzten aufgegeben. Nun stimmt es, 
    daß damit noch nichts entschieden 
    ist, das Epiteliom hat sich in unserer 
    bisjährigen Bekanntschaft nicht als 
    sehr energisch erwiesen, braucht 
    seinen Charakter nicht geändert 
    zu haben.  Daß eine neue Operation 
    nicht ratsam ist, wird auch bei uns 
    allgemein gesagt. Es wird behauptet, 
    daß Radium eine 50%ige 

  • S.

    Aussicht auf Heilung solcher Prozeße im Mund 
    giebt, es ist unzweifelhaft, daß die 
    entsprechenden Versuche in Wien gänz-
    lich inkompetent waren. Man darf 
    also weiter kämpfen und hoffen. Über 
    dem Ganzen schwebt aber ein Schatten, 
    der meines Alters. Sterben muß man 
    auf jeden Fall, auch wen̄ man 83 Jahre 
    gelebt hat, der mögliche Gewinn ist 
    also sehr gering. Man könnte zitiren: 
    „Tant de Bruit for une omelette“, 
    von allen Zwischenfällen abgesehen.

    Was jetzt geschehen soll? Morgen 
    kom̄t Marie, zärtlich und zuverlässig 
    wie im̄er, mit dem Chef des Curie
    Institutes aus Paris. Ich glaube, er 
    heißt Lacassane, gilt als eine der 
    ersten Autoritäten in der Radium-
    therapie. Er soll endgiltig entscheiden 
    ob Radium angezeigt ist.  Sagt er ja, 
    so stellt sich die Frage, ob ich zu ihm 
    nach Paris in sein Spital gehen soll 
    (von Anna u Schur begleitet), oder 
    ob man mit ähnlicher Chance ¿¿¿ 
    Versuch hier unternehmen soll kan̄. Wen̄ 
    ich wochenlang im Spital bleiben 
    muß, ziehe ich Paris vor, die eng-
    lischen institutions sind nach meiner 
    letzten Erfahrung ungastlich und ab-
    scheulich theuer. Kan̄ ich während der 
    Kur im Haus bleiben, so giebt das den 
    Ausschlag für London.

    So habe ich im ganzen Brief kein anderes 
    Wort als über die dum̄e Krank-
    heit unterbringen können.  Harry 
    ist gestern angekom̄en, habe ihn 
    noch nicht gesehen. Den deutschen 
    Moses erwarte ich in nächster Woche. 
    Vielleicht meine letzte Freude. Einer 
    unserer großen Dichter hat es ver-
    kündet: Ein jeder hat, er sei auch, wer er mag,
    Ein letztes Glück und einen 
    letzten Tag.

    Mit herzl Grüßen für Sie, Til u Mark
    wenn er brav bleibt 
    Ihr getreuer 
    Freud

    Tant de Bruit for une omelette] "Tant de bruit pour une omelette! (franz.), „so viel Lärm um einen Eierkuchen!“ d. h. um nichts, sprichwörtlich gewordener Ausruf, der nach einer bekannten Anekdote auf den Dichter Desbarreaux zurückgeführt wird." Quelle: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Tant_de_bruit_pour_une_omelette! [2025-08-23]