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S.
PROF. DR. FREUD
WIEN, IX., BERGGASSE 19.
Schneewinkel21. 7. 1929
Dear Ruth
Ich danke für Ihre beiden Briefe, die
schönen Nachrichten über Til und alles
sonstige, gossip, Pläne, Gefühlsausdruck.
Das über Ihren Vater, auch Mark’s Bemerk-
ung verstehe ich aus der Entfernung und bei
der Dunkelheit Ihrer Andeutungen nicht.
Obwol er Amerikaner ist und ich die amerik.
Geschäftsmoral (und was ist dort nicht Geschäft?)
nicht höher anschlage als sie es verdient,
weiß ich doch seine persönliche Ehrenhaftig-
keit gegen jeden Zweifel gesichert und
kann mir nicht vorstellen was ihn be-
drohen soll. Ihr Brief klingt auch nicht, als ob
Sie ernstliche Sorge hätten.Sie haben Recht, daß ich schreibe und auch darin
Recht, daß es um das Schuldgefühl ist.
Ich schreibe jetzt schon vier Wochen, schreibe,
schreibe … einige Stunden jeden Vor-
mittag, in noch nicht fertig, finde es
sehr schwer u weiß nicht, was es wert ist.
Anfangs wollte es gar nicht gehen, wie
wenn man jahrelang nicht im Wasser war
und das Schwimmen verlernt hat; aber
allmälich schmiegt sich das Element dem
Körper an, man findet die Tempi wieder
und bewegt sich wie in alten Zeiten. Jetzt
bin ich schon so tief drin, daß ich die
gewöhnliche Urteilsnarkose habe, die
man im Schaffen nicht vermeiden kann.
Ich weiß nicht, sind es nur Gemeinplätze
die ich überflüßiger Weise zu Papier bringe
oder hat sich mir ein neuer Einblick in
den Zusammenhang der Dinge eröffnet,
so daß die Welt von da an anders
aussehen wird, als bisher. Keine Möglichkeit, -
S.
zwischen diesen Extremen zu
unterentscheiden, aber auch
kein Interesse dafür. Man muß schreiben,
weiter schreiben, bis es fertig wird.In dieser Abstraktion
bempfindet man als
doppelte Störung, was auch sonst nicht im̄er
willkom̄en gewesen wäre den Schwarm von
Besuchern, die den Lärm der Welt in unsere
Wald‑ und Wiesen‑Einsamkeit bringen. Es
waren die Liebsten und Nächsten darunter,
Alexander u seine Familie für ein paar
Stunden, Mathilde u Robert aus dem nahen
Gmain, Oli Henny u ihr schwarzes Teufelchen
für mehrere Tage, Martin verbringt bei
uns seine Ferialwoche, Ernst u Lux erwarten
wir heute oder morgen, aber außerdem
waren Jones u Frau da, Mr Viereck und Frau,
Landauer mit Frau u Kindern, die in Brchtgd
wohnen, Federn mit einer vor 18 J. behandelten
Patientin (Disposition z. Zwangsn.), Brill für
mehrere Tage oder wenigstens Malzeiten,
ich habe einige Amerikaner dankend abgelehnt
Anna mußte sich mehrere gefallen lassen
und ich habe die Empfindung, als hätte ich
noch viele Besucher vergeßen (ja Eitingon!)
und noch mehr nach dem Kongreß zu
erwarten. Brill war sehr nett, hat viel
von Ihnen und auch vom starling erzält.
Heute ist Sonntag, am Dienstag fährt Anna
zum Kongreß (München‑London durch die Luft)
u Dorothy mit 3 Kindern nach Frankreich
zu einer Schwester. Dann wird es hier
sehr still werden, insoweit nicht Ernst
für Belebung sorgt; ich werde Zeit haben,
zu Ende zu schreiben, aber ich wollte
Sie nicht solange auf einen Brief
warten lassen.Mit herzlichen Grüßen
für Sie alle Ihr
Freud