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S.
Prof. Dr. Freud
Wien, IX. Berggasse 19.29.XII.10.
Lieber Freund
Gestern früh bin ich von München zurückge-
kom̄en. Da ich in ganz schlechter Verfassung
abgereist, hatte ich mir einen Ferialtag
über die beiden Feiertage zugegeben.
Eine Viertelstunde nach mir kam Bleuler
an u dann spazierten u debattirten wir
bis zum Abend, allerdings mit Unterbrech-
ungen durch die glänzenden Malzeiten
im Parkhotel. Ich bin zu einem völligen
Einverständnis u zu guten persönlichen
Beziehungen zu ihm gelangt, er ist auch
nur ein armer Teufel wie wir und
will, daß man ihn ein wenig lieb habe,
was von der entscheidenden Seite vielleicht
vernachläßigt worden ist. Es ist fast unzweifel-
haft, daß er dem Verein in Z beitreten
wird. Damit wäre das Schisma dort behoben.Um 12h50 fuhr er ab, und um 5h15
kam Jung. Dazwischen schlief ich, sehr erschöpft
durch eine schlechte Nacht. Jung war wieder
ganz prächtig u that mir sehr wol. Ich habe
mein Herz über vieles ausgeschüttet, über
die Adler’sche Bewegung, meine eigenen
Schwierigkeiten u endlich über die
Bedrückung durch die Gedankenüber-
tragung. Sie müssen wissen, ich hatte mir -
S.
vorgenommen, der Hofastrologin zu schreiben, und hatte es doch unterlassen, dann ihre Adresse nachzusehen, und in München erinnerte ich bloß die Straße. Gegen solche Zeichen von innerer Schwäche gab ich nach und weihte Jung in die Sache ein, erzählte von Ihren Funden, meiner Bestätigung durch jene Prophezeiung und meinem Vorschlag einer Latenzzeit bis 1913. Er lachte und gestand, daß er längst überzeugt sei, sehr beweisende Versuche selbst angestellt habe, lobte meine Vorsicht und erklärte sich bereit zum Einvernehmen mit Ihnen, wenn es dazu käme. Er sieht alle Gefahren wie wir, will es aber auch dann noch mit der ΨΑ wagen. Ich freue mich, daß er so breite Schultern hat. Ich fand diese Last fast zu schwer fürA mich. Nun seien Sie nicht eifersüchtig, sondern nehmen Sie Jung in Ihren Kalkül auf. Ich bin mehr als je überzeugt, daß er der Mann der Zukunft ist.
Seine eigenen Arbeiten sind tief in die Mythologie gegangen, die er mit dem Schlüssel der Libidotheorie eröffnen will. So erfreulich das alles war, bat ich ihn doch, rechtzeitig zu den Neurosen zurückzukehren. Dort ist das Mutterland, in dem wir unsere Herrschaft zuerst gegen alles und alle sicherstellen müssen.
Meine Schreber‑Arbeit habe ich ihm mitgegeben, die kleinere über die zwei Prinzipien bloß vorgelesen und zur Abänderung nach Hause genommen. Am Abend stieß Seif zu uns, begeistert und gedeihlich wie immer. Abends 10 h 40 nahm ich von beiden auf dem Bahnhofe Abschied.
Die Entrevue hat meinen sinkenden Lebensgeistern sehr wohlgetan. Ich habe jetzt vor, mich etwas weniger zu plagen, und ein nicht von mir provoziertes Sinken der Praxis scheint mich darin unterstützen zu wollen. Eine famose japanische Kröte aus grünem Nephrit habe ich mir als Andenken mitgebracht.
Im Januar erwarte ich Sie hier zu sehen und, da unser Briefwechsel zuletzt wenig ergiebig war, vieles mit Ihnen zu besprechen.
Ich grüße Sie herzlichst
IhrFreud -
S.
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S.
Berggasse 19
Wien 1090
Oostenryk
VII Erzsebét-kőrút 54
Budapest 1073
Hongarye
http://data.onb.ac.at/rec/AC16294248 Autogr. 1053/8(1–12) HAN MAG