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S.
KarlsbadA
Prof. Dr. Freud Wien, IX. Berggasse 19.
12.8.12
Lieber Freund
Ich danke herzlich für Ihre Nachrichten. Aus meiner Voltaire‑Lektüre ist mir ein Satz in Erinnerung geblieben:
En cas de doute abstiens‑toi.1
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Ich will Ihnen aus der näheren Zukunft nur mitteilen, daß ich bei Jones für uns beide lodgings habe bestellen lassen, wie er angeboten hat. Ferner, daß ich Rank eingeladen habe, die Woche in London mit uns zu teilen.2 Fraglich, ob er annimmt, da er Prüfungssorgen hat. Von Brill weiß ich nichts. Auf der Schottland‑ und Rückreise werden wir wohl allein sein.
Aus dem Reich der Wissenschaft, daß die -A gestattet, zwei Urstadien der menschlichen Organisation zu erkennen: die Vaterhorde und den Brüderclan. Letzterer entwickelt die erste Religion, den Totemismus, die aber nachträglicher Gehorsam ist gegen die Gebote aus der ersten Phase. So wurde der Vater zuerst überwunden, aber da die vereinigten Brüder allmählich selbst Väter wurden, kam er wieder, wahrscheinlich jetzt als Gott.3
Ich schreibe Ihnen nicht wieder von hier. Wir reisen Mittwoch früh. Der Aufenthalt hat uns beiden vortrefflich getan. Ich bin noch lange nicht der Faulheit überdrüssig. Emden[s] sind heute abgereist, wollen auch, daß wir bei ihnen im Haag einen Tag rasten.
Herzliche Grüße auch an Frau G. von Ihrem
Freud
Ein Gespräch, das Sie mit Jones über die Bildung eines geheimen Komitees zur Überwachung der Entwicklung der -A4 geführt haben, wird vielleicht in London seine Wirkungen äußern.
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A Handschriftlich über die vorgedruckte Briefkopfzeile gesetzt.
1 Fr., im Zweifelsfalle laß die Hände davon. - Eine persische Regel, die Zoroaster (660-583 v.Chr.) zugeschrieben wird; in Frankreich oft in der lateinischen Form (in dubio, abstine) zitiert.
Freud hatte diesen Satz, von dem ihm sein Freund Fleischl gesagt hatte, er stamme vom heiligen Augustinus, von seiner Braut Martha auf eine *Votivtafel+ sticken lassen und ihn 1883 über seinen Schreibtisch im Wiener Allgemeinen Krankenhaus gehängt. Auf dieselbe Weise hatte er auch einen Spruch Voltaires angebracht: "Travailler sans raisonner" (fr., arbeiten ohne zu urteilen bzw. spekulieren; Candide, Kap. 30) (nach Jones I, S. 90 und Clark, Freud, S. 70).
2 Am Vortag hatte Freud an Rank geschrieben: "Ich frage bei Ihnen an, ob Ihr Zwangsstudium eine Abhaltung für Sie wäre, den Aufenthalt in London 8-10 Tage mitzumachen. Ich würde Sie bitten, dort mein Gast zu sein". Freud wiederholte sein Angebot am 18. August und bezeichnete es als seinen "Dank für Ihr letztes vortreffliches Buch." In Freuds Sicht sollte die Reise "auch den Zweck verfolgen, einen innigeren Zusammenschluß zwischen Ihnen [Rank] und Ferenczi herbeizuführen" (unveröffentlichte Briefe Freuds an Rank vom 11., 18. und 25.8.1912).
3 Im letzten Teil von Totem und Tabu (erschienen 1913) heißt es: "Die Totemreligion war aus dem Schuldbewußtsein der Söhne hervorgegangen als Versuch, dies Gefühl zu beschwichtigen und den beleidigten Vater durch den nachträglichen Gehorsam zu versöhnen. Alle späteren Religionen erweisen sich als Lösungsversuche desselben Problems" (1912-13a, S. 175).
4 Vor dem Hintergrund der Konflikte mit Adler und Stekel und der gespannten Situation mit Jung hatte Jones, der Loe Kann zu ihrer Analyse bei Freud nach Wien begleitet hatte, mit Ferenczi über Gegenmaßnahmen für die Zukunft gesprochen. Ferenczi hätte es ideal gefunden, berichtet Jones, "wenn man in verschiedenen Zentren oder Ländern Männer sitzen hätte, die von Freud persönlich analysiert worden wären. Doch dafür schien keine Aussicht zu bestehen, und ich schlug vor, wir sollten inzwischen eine kleine Gruppe zuverlässiger Analytiker als eine Art *alte Garde+ um Freud herum bilden" (Jones II, S. 186). Jones schrieb darüber am 30. Juli an Freud, dessen Phantasie von diesem Plan "sofort in Beschlag" (ib., S. 187) genommen wurde und der hinzufügte, daß das Komitee "in seiner Existenz und in seinem Wirken streng geheim bleiben" müßte (ib., S. 188). Dem Komitee gehörten neben Ferenczi und Jones anfangs Rank, Sachs und Abraham an, ab 1919, auf Vorschlag Freuds, auch Eitingon. Im Mai 1913 schenkte Freud jedem Mitglied eine antike griechische Gemme, die in goldene Ringe gefaßt wurden.
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S.
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