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                                            Wien, 1. Juni 1922

    Liebe Freunde!

    Zunächst die Nachricht, daß die hiesige Poliklinik
    programmgemäß eröffnet wurde und bereits funktioniert. Es
    arbeiten dort auch einige der auswärtigen Schüler des Pro-
    fessors, so Dr. Sarasin und Frau Dr. Kempner aus der Schweiz.
    Die eigentliche Lehrtätigkeit (Kurse etc.) soll erst im Herb-
    st aufgenommen werden; dagegen werden unsere Sitzungen schon
    jetzt dort abgehalten werden.

    Aus der literarischen Bewegung ist zu berichten, daß
    der Stockholmer Verleger Bonnier das Übersetzungsrecht
    verschiedener Werke des Professors zu erwerben im Begriffe
    ist. – Ferner erhielten wir vom Präsidenten der Soziologischen
    Gesellschaft in Kasan (Rußland) einen – übrigens mit der
    Summe von 450.000.– Rubel frankierten – Brief, in welchem
    er uns den Tausch ihrer „Bibliothek“ mit unseren Zeitschrif-
    ten anbietet. Die Hefte, die er sandte, haben wir an Eitingon
    weitergeleitet und bitten gelegentlich um seinen Bescheid
    darüber. Von unseren Zeitschriften haben wir ihm je eine
    Nummer gesandt. – Dr. Rickman von den Friends hat uns übri-
    gens jetzt angeboten, Bücher nach Rußland zu befördern und wir
    werden davon Gebrauch machen, um unseren Kollegen in Moskau
    (Wulff) Literatur zukommen zu lassen.

    Von eingelaufenen Manuskripten ist das eines Natur-
    wissenschaftlers, Geza Berger, bemerkenswert, der aus Holland
    eine kleine Arbeit über Gruppenantagonismus und Kulturge-
    meinschaft einschickte. Der Autor, der an verschiedenen Stel-
    len der Arbeit deutliche Widerspruchstendenzen verrät, will
    den Antagonismus zwischen Individuen und auch
    innerhalb von Gruppen aus einer „Differenzierungsunlust“
    erklären, was ganz ansprechend wäre, wenn er sich nicht bei
    der theoretischen Begründung zu unmöglichen Konsequenzen
    versteigen würde. Bei dieser Gelegenheit haben wir
    uns wieder die Frage vorgelegt, ob und wie weit unsere Zeit-
    schriften auch widersprechende oder kritisch eingestellte
    Arbeiten aufnehmen sollen und erbitten hierüber um Äuße-
    rungen. In dem vorliegenden Fall glaubten wir aus der ten-
    denziösen Natur des Widerspruches, die wir auch dem Autor
    vorhalten werden, die Publikation der Arbeit in dieser Form
    ablehnen zu sollen.

    Die Arbeit über die Schwarzen Messen von Löwenstein
    werden wir gelegentlich in Imago abdrucken, obwohl sie ziem-
    lich schülerhaft anmutet.
     

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    lich schülerhaft anmutet.

    Deinen Vorschlag, l. Abraham, an Dr. Weiss in Triest, seine
    Arbeit zu übersetzen, halten wir für keine besonders glück-
    liche Idee und konstatieren, dass der Autor selbst so viel
    Einsicht hatte, uns davon abzuraten, da er hauptsächlich
    eine Zusammenstellung Freudscher Zitate bringe, und zwar mit
    besonderer Berücksichtigung auf italienische Verhältnisse. Wir
    dürfen auch nicht daran vergessen, dass für deutsche Leser
    das Buch von Hitschmann da ist.

    Aus der Literatur ist noch zu erwähnen, dass soeben die
    7. unveränderte Auflage der „Traumdeutung“ in einer Auflage
    von 4000 Exemplaren erschienen ist.

    Eine interessante Sendung erhielt der Professor aus
    Rio de Janeiro: eine Sammlung Essays von Medeiros e Albu-
    querque unter dem Titel: „Graves e futeis“, die
    auch eine von sehr gutem Verständnis zeugende Darstellung
    der Psychoanalyse enthält. Der Verfasser, der Literat ist und frühere
    eine ansehnliche Stelle im offiziellen Unterrichtswesen
    innehatte, schickt dazu einen liebenswürdigen Begleitbrief.
    Ferner kam ein amerikanisches Buch von Frederick Pierce:
    „Our Unconscious Mind“ (populäre Darstellung).

    Ad Bpst.: Beiliegend der von uns etwas modifizierte Vertragsentwurf
    bezüglich der ungarischen Übersetzungen, den wir bereits
    an die Firma gesandt haben. – Radó war so freundlich, uns mit-
    zuteilen, dass Dick nur die „Traumdeutung“ anmelden liess; um
    so weniger brauchen wir uns vor seinen Drohungen zu fürch-
    ten. – Die Budapester Buchhandlungen werden in nächster Zeit
    in unserem Auftrag bereist werden. –

    Was ist der typische Traum vom gelehrten Säugling?
    Wir bitten, uns dies gelegentlich in Erinnerung zu rufen.

    ad Bln.: In der Angelegenheit Hattingberg sind wir absolut gegen
    jede Konzession. Im übrigen sind ja Marcinowski und Witten-
    berg keine Mitglieder und haben überhaupt kein Recht mitzu-
    reden. Im Übrigen haben wir uns ja von der Unfruchtbarkeit
    von Diskussionen längst überzeugt und möchten auch den
    Gruppen nicht das Recht zusprechen, auf dem Kongress Dis-
    kussionen über einzelne Vorträge zu verlangen. Nur dem Vor-
    sitzenden, der den Kongress leitet, steht ein solches Recht
    zu und wir überzeugt, dass Du, l. Ernest, es ja nur in einem
    ganz besonderen Falle tätest. Wir möchten das Kongresspro-
    gramm, das wir aufstellen, in keiner Weise durchbrochen se-
    hen, und möchten Dir, l. Ernest, auch nahelegen, den Hatting-
    bergschen Vortrag zurückzuweisen, wenn er nicht die analy-
    tische Situation zwischen Arzt und Patienten behandeln
    sollte.

    Deine Reaktion auf die Anfrage des Schweizer Pat.,
    l. Abraham, finden wir sehr korrekt und nachahmenswert.
    Wir können uns aber nicht verhehlen, dass wir schliesslich doch
    alle faktisch unsere ausländischen Kollegen unterbieten,
    was aber in der Natur unserer Verhältnisse liegt.

    ad London: Der Professor gibt Dir, l. Ernest, vollkommen Recht, dass das Wort
    „Psychoanalyse“ schon in dem französischen Artikel (1896) vor
     

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    kommt. – Die Komitéangelegenheit wollen wir doch lieber 
    auf unsere Zusammenkunft aufsparen.

    Dr. Odier in Genf wandte sich an uns mit der Bitte
    um Aufnahme in die Internat. Psa. Vereinigung. Da er von
    zwei Mitgliedern (Dr. Piaget und Dr. Spielrein) empfohlen ist
    und auch aus der Literatur nicht ungünstig bekannt (wir
    erwähnten kürzlich einen guten Artikel gegen Coué-Baudouin),
    schrieben wir ihm, daß wir sein Gesuch nach London weiter-
    geben und ihn empfehlen werden und teilten ihm mit, daß
    er als Schweizer an die dortige Zweigvereinigung gewiesen
    werden wird. Oberholzer ist auch bereits in dem Sinne ver-
    ständigt.

    Was die Titelwünsche der Amerikaner betrifft, so sind
    wir entschieden dagegen und würdigen Deine Argumente, l. Er-
    nest, vollkommen. Wir erblicken darin nichts anderes als
    einen Vorstoß gegen die Laienanalyse und lehnen
    es schon darum energisch ab.

    Wir möchten Dich, l. Ernest, nochmals daran erinnern,
    daß Mr. Ed. Bernays sich neuerdings angeboten hat, unsere
    Bücher in Amerika verbreiten zu helfen, was ja sehr notwen-
    dig ist. Willst Du Hiller veranlassen, daß er sich mit ihm
    in Verbindung setzt.

    Bezüglich der Sammlung kleiner Schriften geht ein Pri-
    vatbrief des Professors an Dich ab.

    Für Berlin lege ich eine Liste der Wiener Kongreßteil-
    nehmer bei.

    Mit herzlichen Grüßen
    [Rank/Freud]