• S.

    PROF. DR. FREUD 
    WIEN IX., BERGGASSE 19
    Semmering

    4. 7. 28

    Liebe Ruth

    Ich habe jetzt Ihren Brief nach 
    Berlin mit vielen Fragen, 
    die sich jetzt als verfrüht 
    erweisen, u den merk-
    würdigen Nachrichten über 
    Marie. Ich möchte mir ihr 
    Benehmen nicht durch die 
    Angst vor Ausbeutung er-
    klären, denn die macht 
    keinen Menschen schlecht 
    aussehen und Marie ist 
    im Grunde gutmütig. 
    Aber ihr Interesse an And-
    eren ist wie wir wissen, 
    nicht sehr fest fundirt 
    und wird gründlich wegge-
    fegt wenn sie etwas 
    hat, was ihren Narzißmus 
    beschäftigt.  So etwas hat 
    sie jetzt, eine große 
    Enttäuschung. Nach vielen 
    Versuchen das Gegenteil 
    zu glauben, hat sie sich 
    überzeugen müßen, 
    daß ihre Frigidität 
    durch die Verringerung 
    der Distanz nicht be-
    seitigt ist, also daß 
    sie sich in dem Wert 
    der Operation geirrt 
    hat. Das ist eine große 
    Niederlage für sie, die 
    sie vielleicht bei Ihnen

  • S.

    am schmerzlichsten empfindet 
    da sie weiß, daß Sie von 
    Anfang an an den Erfolg 
    nicht geglaubt, somit als 
    Rivalin Recht behalten 
    haben.  Für die Analyse 
    bedeutet der Miserfolg 
    eine gute Chance, denn 
    natürlich war sie für 
    eine psychische Aufklär-
    ung der Frigidität un-
    zugänglich, solange sie 
    an deren physische Ur-
    sache geglaubt hat.

    Lum Jug äßt sich für Ihre 
    Zärtlichkeit bedanken. Sie 
    ist ein reizendes Thierchen, 
    schon sehr attachirt, etwas 
    faul u sehr gefräßig. 
    Eine wunderschöne Wetter-
    zeit scheint heute zu 
    Ende zu gehen.

    Von Brill ein sehr zärt-
    licher Brief wie in alten 
    Zeiten; er meint, er habe 
    Aussicht auf einen perman-
    enten Lehrstuhl für ΨA 
    an Columbia University
    Über Lehrman schrieb er 
    tolerant, nicht enthusiastisch. 
    Er hätte mir früher Aus-
    kunft geben können.

    Herzl Grüße
    für Sie u Mark
    Ihr 
    Freud