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S.
PROF. DR. FREUD
WIEN, IX., BERGGASSE 19.20. 5. 1929
Dear Ruth
Es ist ein ruhiger Pfingstmontag‑Abend
grade recht, um Ihren heutigen Brief
mit dem Bildchen als entzückte
Mutter zu beantworten.Von allenv
Nachrichten über Baby erfreute mich
diesmal am meisten, Ihre Versicherung,
daß Sie bestrebt sind, allzuviel Reize
von ihm abzuhalten, damit es sich nicht
noch schneller entwickelt. Sie wissen
die Erziehung muß oft dasselbe thun wie
die Analyse, die Gegenseite ergreifen,
das hemmen, was die Oberhand hat, und
das begünstigen, was unterliegt.Über David möchte ich Ihnen Beiden ein-
mal ausführlicher berichten. Es ist ein Jammer
mit ihm. Seine Analyse geht seit den
letzten Monaten zumeist in Wieder-
holungen, die er aber selbst als solche
erkennt. Er macht übrigens alles selbst
so daß ich Tage lang nichts dreinzureden
habe. Er kritisirt sich scharf und gründ-
lich, wesentlich mit der Absicht mich
nicht zur Kritik kom̄en zu lassen, die
er bei seiner riesigen Empfindlichkeit
nicht verträgt und die ihn sofort in die
paranoische Reaktion bringt. Aber gleich-
giltig, ob die Analyse geht oder nicht, ob
seine Widerstände steril bleiben
oder ihre Aufklärung finden– durch
ihn selbst – eines bleibt ungeändert:
daß er nichts arbeitet. Von nützlicher
Arbeit ist längst keine Rede mehr.
Was er Arbeit nen̄t und woran sich
die unvermeidlichen Schwankungen
zeigen, sind Leistungen wie Briefe
schreiben, tickets besorgen, errands
ausführen udgl. Er liest jetzt zwar -
S.
meine Vorlesungen, aber das ist auch nur ein Spiel,
gradeso wie er mit mir „Analyse“ spielt oder
spielen will. Diese Hemmung hat ihren guten
analytischen Sinn. Kein Zweifel, daß die
natürliche menschliche Arbeitsunlust und
die Sicherheit, nicht aus Not arbeiten zu
müßen viel Anteil daran haben, aber
schließlich giebt es für einen Kulturmenschen
noch andere Motive, etwas im Leben
zu verarbeiten als die Angst vor dem
Hunger. Der tiefste Grund ist also ein anderer,
er hängt wie alle seine Abnormitäten,
mit der infantilen Sexualität zusam̄en.
Er hat frühzeitig seine Onanie aufgegeben
und das ist Arbeit genug; seither braucht
er nichts mehr zu thun, darf man von
ihm nichts verlangen. In der Kur konnte
er das sehr schön wiederholen, er hat
auf seine perversen Onaniephantasien
(fast völlig) verzichtet. Wiederum genügt
ihm diese Leistung.Zu einer anderen Seite seines Wesens
komme ich vielleicht ein anderes Mal.
Er ist offenbar kein Neurosenfall sondern
eine schwere Charakterveränderung. Ich
setzte ihm als Praemie die Fortsetzung
der Kur in Berchtsg. aus; es hat nichts
gefruchtet. Jetzt habe ich ihm noch die
Wiederaufnahme der Behandlung
im Herbst zugesagt. Ich möchte ihn gern
überhaupt wegschicken, aber er thut
mir so leid.Karolyi wäre ganz gut, aber mittendrin hat
er sich für 2 Wochen entfernt u mich
– unfertig wie ein halb Rasierter – verlassen.
Oh, diese Zahnkünstler!Herzlich Sie alle grüßend
Ihr
Freud