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S.
PROF. DR. FREUD
WIEN, IX., BERGGASSE 19.25. 5. 1938
Meine liebe Ruth
Ich habe Ihre Briefe erhalten und mich
besonders über die Nachricht gefreut,
daß das Befinden Ihres Vaters so schöne
Fortschritte macht. Aber Sie wollen wahr-
scheinlich hören, was bei uns vorgeht.Nun, wenn Sie diesen Brief
lesen, sind wir wahrscheinlich schon
in 39 Elsworthy Road London NW 3.
Ernst hat dort ein möblirtes Häuschen
für uns gemietet am Rand von
Primrose Park. Tante u Dorothy sind
bereits gestern eingezogen. Auch Martin
ist schon in London, Mathilde u Robert
sind eben, während ich schreibe – es ist
10h 15 a. M. – in Paris angekom̄en.
Ich sagte: wahrscheinlich, sicher weiß ich
es nicht. Ich werde froh sein, wenn
wir noch im Monat Mai abreisen
können. In Wirklichkeit ist es un-
bestim̄bar, die Verhandlungen mit
der Reichsfluchtsteuer sind schwierig
und langwierig. Alles Übrige wäre
erledigt. Anna, die einzig leistungs-
fähige unter uns, hat mit den Ämtern
u Konsulaten genug zu thun gehabt.
Meine Sam̄lung ist gegen eine
geringe Abgabe ohne Einbuße
frei gegeben worden. Das war
die einzige angenehme Überraschung. -
S.
Nun sitzt man hier, bei schlechtem Wetter,
und weiß nicht, womit man den Tag
ausfüllen soll, der durch das Warten
so sehr verlängert wird. Stim̄ung und
Allgemeingefühl sind für¿¿¿¿irgend-
welche wissenschaftliche Arbeit un-
günstig.Von dem freiwilligen Ausgang
unseres guten Knöpfm werden Sie
gehört haben. Sie schreiben nichts da-
rüber, aber es muß Sie sehr betroffen
haben. Schur sollte als Leibarzt mit
uns reisen. Aber wie ungeschickt von
ihm; gestern mußte er sich am
Blinddarm operiren laßen. Es soll
gut gehen, natürlich kön̄en wir nicht
auf ihn warten. Anna will an
seiner Statt die Stross mitnehmen.Wir haben anderen geholfen,
so gut wir nur kon̄ten. Sogar ich
habe Empfehlungsbriefe, Werb-
ungen und Affidavits udgl in Menge
von mir gegeben. Es ist alles zu
wenig.Wir wollten zu fünfzehn Personen
mit einander ausreisen, jetzt sind es
nur noch 5, die warten.Ich kann Sie nicht bitten, mir hieher
zu antworten. Die nächste Nach-
richt bekom̄en Sie doch aus England.Herzlich für Sie Alle
Ihr
Freud