• S.

    PROF. DR. FREUD 
    WIEN, IX., BERGGASSE 19.
    Schneewinkel 

    24. 6. 1929

    Meine liebe Ruth

    Nein, ich werde diesmal gar nicht schelten. 
    Ich gebe Ihnen Pierce Clark ohne weiteres 
    preis.  Ich muß Ihnen mein günstiges Urteil 
    über ihn mit einigen Worten erklären. 
    Ich habe es längst aufgegeben, einen Fremden 
    nach einer kurzen Unterredung einschätzen 
    zu wollen u habe anderseits gemerkt, daß 
    die Menschen eine besondere Maske 
    anlegen, wenn sie zu mir kommen. 
    (Gewiß sähe ich lieber: Sie). Somit empfange 
    ich den Eindruck in voller Würdigung 
    seines geringen Werts und mache mir 
    keine Gedanken darüber, ob er richtig 
    ist. Wenn Sie soviel von P. Cl. wissen, 
    glaube ich Ihnen. Ich glaube überhaupt gern 
    alles Schlechte, was ich über einen Amerikaner 
    höre und konstatiere auch, daß jeder 
    Amerikaner Schlechtes von jedem anderen 
    zu sagen weiß. Wahrscheinlich hat er 
    jedesmal Recht.

    Jones war gestern mit seiner Frau in seinem 
    Auto hier bei uns u hat sich heute ver-
    abschiedet.  Unser Verkehr hat sich in 
    recht zärtlichen Formen abgespielt, 
    aber wir hatten auch eine lange Dis-
    kussion über die Behandlung der 
    Laienfrage auf dem Kongreß, in der 
    ich sehr entschieden war. Ich sagte, wenn 
    sich dort etwas ereignen sollte, was 
    die Sprengung der I.P.V. zur Folge hat 
    (durch den Austritt von Wien, Berlin
    Bpest, wenn man den Amerikanern 
    Konzessionen macht) werde ich ihn dafür

  • S.

    verantwortlich machen. Glauben Sie, daß es nützen 
    wird?  Brill, Jelliffe u Oberndorf hat er zu einer 
    Vorkonferenz in London eingeladen zur 
    Besprechung des Vorgehens in Oxford. Ich 
    habe in Ihrem Brief allerdings nicht 
    verstanden, worüber sogar Brill shocked 
    war. Jones u McCord kamen dann zusam̄en, 
    J. äußerte tags darauf über MC, er sei banal u 
    uninteressant. MC über J, er habe noch nie 
    einen so wenig adjusted Analytiker getroffen. 
    Auch über Wittels Auftreten in Amerika 
    habe ich neue ungünstige Mitteilungen be-
    kommen. Wechsler hat mir sein Neurosenbuch 
    geschickt, ich habe es angeblättert, es hat mir 
    weniger gefallen als das Kapitel im 
    anderen. Am 30st kom̄t Ferenczi auf der 
    Reise nach St Moritz für einen Tag. –
    Ich denke, das ist gossip genug für heute. 

    Das Referat von Harnik werden Sie 
    in der Zeitsch lesen, die Fahnen habe ich 
    leider nicht mitgenom̄en. Ihre orale 
    Beobachtung ist sehr hübsch, durchaus coherent
    nicht überraschend. Ich meine Til’s Schwier-
    igkeiten können von ihrer frühzeitigen 
    Entwöhnung herrühren, sie hat nicht 
    genug Brust gehabt.

    Wir sind hier alle sehr behaglich bis auf 
    Tante Minna, die vom Süden verwöhnt 
    ist. „Man wandelt nicht ungestraft unter 
    Palmen.“ Wirklich haben wir nach drei 
    wunderschönen Tagen heute den vierten 
    trüben kalten Regentag.

    Ich arbeite 2 Stunden 4‑6h mit Ruths u McCord
    bis 1 Aug wird es nicht mehr. Prothese 
    scheint sich hier funktionell zu bessern.

    Ich grüße Sie mit Mark 
    u Til herzlich 
    Freud