• S.

    PROF. SIGM. FREUD 
    20 MARESFIELD GARDENS.
    LONDON. N.W.3.
    TEL: HAMPSTEAD 2002.

    18 Nov 1938

    Meine liebe Ruth

    Heute habe ich drei Ihrer Briefe er-
    halten und sehe darin eine Aufforder-
    ung, meine Antwort nicht zu ver-
    schieben. Sie setzen mich in den Stand, 
    alle Inhalte Ihres Lebens mitzuerleben 
    und ich brauche Ihnen nicht zu sagen, 
    mit welcher Teilnahme ich Ihnen 
    folge. Am meisten schmerzt mich, 
    was Sie über Mark schreiben. Das 
    Schauspiel der zwei langsam sterben-
    den Eltern ist arg genug, aber so 
    grausam es ist, man kann sich sagen, 
    es gehört zu den Notwendigkeiten, 
    auf die man gefaßt sein mußte, 
    denn nur ihren Lieblingen schenken 
    die Götter einen schnellen Tod. Aber 
    Mark’s Entwicklung ist ein ungemil-
    dertes Unglück. Es ist mir eine schwere 
    Kränkung, daß ich ihn zu den Fällen 
    rechnen muß, auf die Analyse keinen 
    Einfluß gehabt hat – wie seinen 
    Bruder.

    Was bei uns vorgeht, ist weniger 
    spectacular“.  Daß kein Behagen auf-
    kom̄t unter dem Eindruck der 
    neuen Verfolgungen und dem 
    Andrängen der neuen Emigrations-
    welle, ist selbstverständlich. Täglich 
    und stündlich leidet man unter 
    dem Bewußtsein seiner Ohn-
    macht. Die öffentliche Meinung in 
    England ist gegenwärtig empört 
    genug, aber das wird 

  • S.

    vorübergehen und die Politik des appeasement wird 
    bleiben. Man wird müde, so oft zu hören, 
    daß Hitler doch eigentlich ein großer 
    Mann ist. Manchmal fühlt man sich 
    durch englisches Wesen recht enttäuscht.

    Minna ist in langsamer Besserung, 
    gestern war sie zum ersten Mal bei 
    Tisch im Speisezimmer unten. (Sie ken̄en 
    unser schönes Haus noch nicht). Mein 
    Knochen hat sich noch nicht abgestoßen, 
    infolge deßen bestehen alle Beschwer-
    den weiter und ich bin unfähig, 
    etwas rechtes zu arbeiten. Kein 
    neuer Patient; es scheint, ich werde 
    hier überhaupt keinen bekom̄en. 
    Die Übersetzungen des Moses sind 
    angeblich im Gange, ich warte noch 
    auf die Korrekturen selbst von 
    der deutschen Ausgabe, die in Holland 
    bei Alert de Lange(r) erscheinen 
    soll. Der November war von un-
    geahnter Milde und Schönheit, das 
    berüchtigte englische Wetter läßt 
    noch auf sich warten.

    Schreiben Sie mir nur bald wieder, 
    es scheint Ihnen ja Bedürfnis 
    zu sein. 
    Mit herzl Wünschen
    Ihr 
    Freud

    P.S. Marie ist allright. Wir erwarten 
    Sie anfangs Dez., ehe sie nach Athen 
    und Aegypten fährt.